Der Franzose Pascal Dusapin hat sich nicht nur mit einer Reihe von bemerkenswerten Musiktheaterwerken einen Namen gemacht, mit großformatigen Orchesterstücken und suggestiver Vokalmusik. In der Kammermusik hat er sich im Laufe seiner Karriere auch immer wieder jeweils auf ein Soloinstrument konzentriert. Dabei hat er – die Ausnahme stellen die Sept études für Klavier (1999–2001) dar – seinen 15 Solowerken für Streich- und Blasinstrumente jeweils Titel gegeben, die mit dem Buchstaben »I« anfangen. »I« wie die lateinische Ziffer für ein Einzelnes, genau passend für Werke, die sich den Möglichkeiten eines einzelnen Instruments widmen. Dieser ausgeprägte Hang zur Alliteration in den – verschiedensprachigen – Titeln lässt sich beobachten von Inside für Bratsche (1980) über Ici für Flöte (1986) und Indeed (1987) für Posaune bis Ipso für Klarinette (1994) und schließlich bis In vivo (2014), seinem zweiten Solostück für Violine nach Iti (1987). Dies ist womöglich nur ein kurioses, letztlich äußerliches Detail, eine marginale Bedeutungsschicht, aber sie passt zu der Sorgfalt, der Umsicht, der Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit, die charakteristisch für das Komponieren von Pascal Dusapin sind.
In vivo wurde 2015 von Carolin Widmann bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik uraufgeführt. Seither ist das Stück fest in ihrem Repertoire und wurde erfolgreich beispielsweise auch in der Londoner Wigmore Hall und im Wiener Konzerthaus präsentiert. Ausgehend vom Titel seines Werks hat Pascal Dusapin für die Uraufführung in Witten eine Erläuterung zum Stück gegeben: »In vivo ist eine lateinische Redewendung und bedeutet ›im Lebendigen‹, als ein Begriff, der bei der Erforschung von lebendigen Organismen mit ihren komplexeren Bedingungen verwendet wird. Die Musik ist alles andere als ein lebloses Objekt. Das wird in einem biologischen Sinn hörbar: Ähnlich wie ein Körper ist nämlich auch eine musikalische Form in dem Sinne lebendig, indem sich jeder Teil nach einer umfassenden Dynamik entwickelt.« In vivo ist – um im Bild zu bleiben – ein komplexer Organismus. Das Werk wird bestimmt von einem untrüglichen Formempfinden bei gleichzeitig intensiver Expressivität in vielfachen Ausprägungen, was diesem Stück eine immense Spannkraft verleiht.
Eckhard Weber