Der 1952 im Göteborg geborene Pär Lindgren hat im Interview für Ultraschall Berlin sein Selbstverständnis als Komponist auf eine bezwingende Formel gebracht: »Ich versuche interessante Musik zu schaffen, die eine Relevanz hat und es wert ist, damit Zeit zu verbringen.« Sein Kammerstück Aliti – mentre stiamo respirando aus dem Jahr 2006 trägt einen italienischsprachigen Titel: Aliti ist der italienische Plural für »Atem« oder »Hauch«, der Zusatz bedeutet so viel wie »während wir weiteratmen«. Diese Bedeutung ist eng mit einer tiefgreifenden Erfahrung des Komponisten verbunden, wie er im Interview für Ultraschall Berlin erklärt: »Nachdem ich den Tsunami in Kao Lak 2004 erlebt hatte, war es bei mir eine Art Obsession nach diesem Erlebnis: In den Jahren danach arbeitete ich in mehreren Werken mit Gedanken, die damit zu tun hatten.«
Den Eindruck des Atmens hinterlässt das musikalische Geschehen in Aliti unmittelbar. Als wesentliches Charakteristikum seines Werks nennt Pär Lindgren »das konstante atemgleiche Pulsieren der Musik und die Erkundung unterschiedlicher harmonischer Räume, in denen das Material widerhallt.« In der gemischten Quartettbesetzung sind natürlich vor allem die beiden Holzblasinstrumente Flöte und Klarinette als direkt mit dem Atem verbundene Instrumente maßgebliche Akteure. Aber überraschenderweise gestalten auch die beiden Streicher die Schwingungen des Atmens mit. Alle vier unterschiedlichen Instrumente erzeugen mitunter den Eindruck eines einzigen, archaisch klingenden, obertonreichen Instruments, dessen Hervorbringungen in kleinsten Farbwerten schillert. Dies eröffnet eine ungeahnte Klangwelt mit einer immensen Sogkraft, bei deren klanglichem Amalgam zuweilen nicht mehr zu unterscheiden ist, welches einzelne Instrument diese Klangbestandteile hervorbringt. Das ist faszinierend, betörend und spricht direkt emotional an.
Auf der strukturellen Ebene spielen dezente Einflüsse unterschiedlicher Musiktraditionen in Aliti eine Rolle und zwar ein Kontinuum aus Folkloreelementen aus europäischen Regionen sowie Folklore aus dem arabischen Raum. Der Anlass dafür war ein konkreter zeitgeschichtlicher, der sich während der Arbeit an Aliti ereignete, der sogenannte »Karikaturenstreit«, der 2006 eskalierte. Pär Lindgren hat künstlerisch seine eigenen Konsequenzen angesichts dieser Entwicklungen gezogen, wie er sagt: »Während ich das Stück komponierte, gab es eine Menge medialer Diskussionen über einige Karikaturen, die zu Konflikten zwischen dem Orient und der westlichen Welt führten. Da ich interessiert bin an jeder Art von Musik, die ich höre, fand ich es angemessen, angesichts dieser Umstände eine Mischung unterschiedlicher kultureller Elemente, vielleicht in einer etwas naiven Art, auszuprobieren. Das ideale Resultat sollte etwas ganz Neues sein, worin keiner der Einflussfaktoren überwiegt.«
Eckhard Weber