Weariness heals wounds wurde ursprünglich als weariness heals wounds I für Bratsche solo komponiert und 2014 in Paris im Rahmen des Festival d’Automne von Antoine Tamestit uraufgeführt. Das Stück ist dem in jenem Jahr verstorbenen Filmregisseur Michael Glawogger (1959–2014) gewidmet. Glawogger wurde wie Olga Neuwirth in Graz geboren und ist wie sie in der Steiermark aufgewachsen. Die Komponistin hat eine große Affinität zum Kino. So wurde ihre bekannteste Oper, Lost Highway, vom gleichnamigen Psychothriller von David Lynch inspiriert. Neben ihrem Musikstudium hat Olga Neuwirth Mitte der 1980er Jahre am San Francisco Art Institute Film studiert, wo Anfang der 1980er Jahre auch Michael Glawogger sein Handwerk lernte. Jahre später bat er die Komponistin um den Soundtrack für seinen Film Das Vaterspiel (2009).
Im Dezember 2013 brach Michael Glawogger zu seinem letzten Filmprojekt auf, einem „Doku-Experiment“, bewusst ohne konkretes Konzept, um ein Bild der Welt zu erhalten, »wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt (…)«, so der Regisseur. Von Kroatien führten ihn die Dreharbeiten über Marokko und Mauretanien bis nach Liberia. Hier starb Michael Gawogger im April 2014 an Malaria. Aus dem gedrehten Material entstand die Dokumentation Untitled, 2017 auf der Berlinale vorgestellt. Zu Beginn von Untitled hört man Glawoggers Stimme mit den Worten: »Der schönste Film, den ich mir vorstellen kann, ist einer, der nie zur Ruhe kommt.«
Als Olga Neuwirth 2014 ihr Solostück komponierte, konnte sie diese Stelle des Films kaum kennen. Doch genau um Aspekte der Ruhelosigkeit und um Innehalten als Verweigerung geht es in ihrem Stück, das sie dem Gedenken an Michael Glawogger widmete. Die Nachricht von seinem Tod habe sie in einem Café an der Upper West Side in New York erhalten, wo sie sich zuvor auch das letzte Mal mit ihm getroffen habe, erzählte sie einmal in einem Interview. Damals, habe Glawogger müde ausgesehen, »ich glaub‘, er hat zu wenig auf sich selber aufgepasst«, so die Komponistin. In einem Werkkommentar zu weariness heals wounds I (»Müdigkeit schließt Wunden«) erwähnt sie das japanische Massenphänomen der Hikikomori, jungen Erwachsenen, die sich von der Welt abwenden und für Monate oder Jahre etwa in ihrem Kinderzimmer bleiben als Reaktion auf Leistungsdruck und sozial Zwängen. Sie fühle sich jenen Hikikomori nah, bemerkt die Komponistin, denn es sei so schön, sich in der freien Zeit zu vergraben, als »Gegenwelt zur Hyperaktivität und ihrem Verbündetem, dem Multitasking.« In diesem Zusammenhang ist ein Zitat von Walter Benjamin aufschlussreich, dass Olga Neuwirth ihrer Partitur vorangestellt hat: »Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet« aus Benjamins Essay Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In weariness heals wounds hat Olga Neuwirth ein Spannungsfeld zwischen Ruhe und Rastlosigkeit gestaltet. Das Stück ist bestimmt von Kontrasten zwischen Liegeklängen und rasanten, nervös getriebenen Bewegungen, hohem Flageolett-Pfeifen und vollklingenden Tönen, Geräusch und Vollklang, leisen Rückzügen und lauten Ausbrüchen. Dies alles in neuen Verhältnissen durch eine besondere Skordatur, das planvolle Umstimmen der Saiten.
Eckhard Weber