Olga Neuwirth: incidendo/fluido

für Klavier und Zuspiel (2000) 10‘‘

Wege nach Berlin II: Olga Neuwirth wurde in Graz geboren, studierte in San Francisco und Wien, lebte unter anderem in New York, Paris und Venedig und hat heute ihren Wohnsitz in Berlin. In ihrem Geburtsland Österreich bezog sie schon um die Jahrtausendwende öffentlich politisch Stellung gegen rechtspopulistische Umtriebe. Sie hat früh multimedial gearbeitet und Themen etwa aus der Popkultur und aus Queer- und Genderdiskursen in die zeitgenössische Musik gebracht. »Ich weiß, dass man mit Kunst nichts ändern kann, aber Kunst kann Erstarrtes aufzeigen und den desolaten Zustand von Gesellschaft und Politik sichtbar machen«, hat Olga Neuwirth vor einigen Jahren erklärt Zu diesem Zweck fordert die international gefragte Komponistin ideenreich, eigenwillig, zuspitzend und immer wieder überraschend Traditionen und Hörerwartungen heraus. Und lädt ihr Publikum ein, Perspektiven zu wechseln und neu über Dinge nachzudenken.

Incidendo/fluido für Klavier und Zuspiel-CD, 2000 für Mario Formenti komponiert, ist ein solches Werk, das aufhorchen lässt. Im Klavierpart beschränkt sich Olga Neuwirth bewusst auf den begrenzten Tonraum der mittleren Lage, zudem in einem eng geführten Satz bei schneller Bewegung der Stimmen. Wäre das Klavier herkömmlich gestimmt, käme es zu einer dichten Chromatik im Klang. Manche Klaviersaiten sind jedoch präpariert, so dass sich mikrointervallische Färbungen ergeben. Außerdem – gewissermaßen als weitere Präparation – liegt im Korpus des Klaviers ein CD-Player. Das Klavier wird somit zum Resonanzraum einer weiteren Schallquelle: Vom CD-Player ertönen die Klänge von Ondes Martenot, jenem ätherisch klingenden Instrument aus der Frühzeit der elektronischen Klangerzeugung, das beispielsweise Olivier Messiaen gerne einsetzte. Was aufgrund der engen Lage im Klavierpart an Obertönen ausgespart ist, wird nunmehr mit den Tönen der Ondes Martenot auf neuartige Weise aufgefüllt. Ein Spiel mit tönendem Schein und Sein, Distanz und Nähe, tatsächlich gespielten Klängen und Konserve – und in der besonderen Amalgamierung eine spannende Herausforderung für das Ohr.

Eckhard Weber