Ein Film von
Shmuel Hoffman & Anton von Heiseler
mit einer Komposition von Sarah Nemtsov
für Keyboard solo (mit verstärktem Klavier und Stimme)
Für ihr neues Werk für Klavier und Elektronik hatte Sarah Nemtsov von Anfang an intuitiv die Absicht, eine weitere inhaltliche Ebene einzuziehen, ihre Musik in irgendeiner Weise mit etwas Visuellem zu verbinden. Während sie sich Gedanken dazu machte, kam die Anfrage der Filmemacher Shmuel Hoffman aus Philadelphia und Anton von Heiseler aus Berlin, die gemeinsam in Indien einen experimentellen Dokumentarfilm gedreht haben. Für dieses Projekt, einen Stummfilm in Farbe mit dem Titel Mountain & Maiden, suchten sie eine Musik. Als Ergebnis hat Sarah Nemtsov eine live zu spielende Filmmusik für Klavier und Elektronik geschaffen, durchaus mit Blick auf die Tradition der Klavierbegleitung bei Stummfilmen vor hundert Jahren, jedoch mit den Mitteln unserer Zeit.
Der Dokumentarfilm von Hoffmann und Heiseler zeigt ein zehnjähriges Mädchen in Neu-Delhi. Es wirkt glücklich selbstversunken, auf gewisse Weise zufrieden, wie dies Kinder bei einer intensiven Beschäftigung sein können. Auch die liebevolle Beziehung zur Mutter ist zu erkennen. Aber der Film zeigt auch: Die Familie des Mädchens lebt in unmittelbarer Nähe einer Müllhalde, die Protagonistin sammelt dort Unrat. Zu sehen sind die schillernden Farben der giftigen Dämpfe auf diesem Abfallgebirge. Die Filmemacher konnten sich bei ihrer Arbeit nur mit Atemmasken bewegten. Das porträtierte indische Mädchen dagegen läuft im Film ungeschützt in diesem lebenszerstörenden Umfeld umher – wie alle anderen, die dort leben. Drei Brüder des Mädchens sind bereits an Krankheiten in Zusammenhang mit den Giften des Ortes gestorben. Ein schockierendes Menetekel, das die destruktiven Konsequenzen eines ungezügelten Konsums und eines fatalen Wachstumsglaubens zeigt, wie auch die letalen Folgen der Globalisierung. Auch Europa exportiert Abfallmassen profitabel auf solche Halden wie jene in Neu Delhi. Die Szenen im Film sind weit weg und gleichzeitig sehr nah.
»Dazu nun Musik zu machen, ist letztlich unmöglich. Man kann natürlich nur scheitern, insofern nehme ich dieses Scheitern auf eine Art an«, hat Sarah Nemtsov im Interview für Ultraschall Berlin erklärt. Die Musik zum Film ist auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sprachlosigkeit angesichts des Dokumentierten. Sie reflektiert einen Zwiespalt: das Bewusstsein für die Anmaßung, als Mensch aus einem wohlhabenden Land in Europa, diesem Leid eine Stimme geben zu wollen. Gleichzeitig aber auch den Wunsch, mit den eigenen Mitteln auf die Missstände hinzuweisen. Und somit letztlich dem Mädchen des Films doch eine Stimme zu geben. In einem ähnlichen metamodernen Dilemma befand sich Sarah Nemtsov auch bei ihrer 2016 in Halle/Saale uraufgeführten Oper Sacrifice, die sich mit Extremismus auseinandersetzt, mit IS-Kämpferinnen aus Deutschland, mit Rechtsextremen und mit dem Krieg in Syrien. In Sacrifice hat die Figur des Geflüchteten Azuz ein Gesangssolo. Doch Sarah Nemtsov hat sich einer Gestaltung als Arie verweigert. Der dafür vorgesehene Text wird entweder vorher vorgelesen oder im Bühnenraum projiziert: »Wenn ich dies mit dem Pathos des Singens zusammengebracht hätte, aus meiner westlichen Perspektive, wäre es für mich völlig falsch gewesen«, hat Sarah Nemtsov darüber gesagt.
Eine vergleichbare Trennung der Mittel gibt es auch in Mountain & Maiden: Zu hören ist nicht nur der Klavierpart, die Klänge werden durch die vorgesehenen Samples klanglich gebrochen, verschleiert, konterkariert. Zu diesem Zweck befinden sich auf dem Sampler-Keyboard Klavierklänge, die mit dem live gespielten Klavierklang verschmelzen und ihn so verfremden. Zusätzlich erklingen elektronisch bearbeitete konkrete Sounds, Tonaufnahmen, welche die Filmemacher als Tonaufnahmen vom Drehort in Neu Delhi mitbrachten: Lärm von Lastwagen auf der Müllhalde, Geräusche der Menschen, die sich dort tummeln, Schreie von Vögeln, die über den giftigen Dämpfen kreisen, Stadtgeräusche. Hinzu kommen punktuell Ausschnitte aus einem Interview mit der Protagonistin des Films. Alle diese Klänge werden während der Aufführung live vom Pianisten auf mehreren Tastaturen hervorgebracht, als Musik zu einem Stummfilm aus dem 21. Jahrhundert.
Eckhard Weber