Der Zyklus Brains für Streichquartett spiegelt mein Interesse an den Mechanismen des Gehirns und deren Beziehung zu Verhalten und Geist wider. Der Zyklus besteht aus fünf Stücken, die miteinander verkettet oder unabhängig voneinander gespielt werden können.
Brains (2017) ist inspiriert von der Spontaneität des Gehirns und seinem Lernsystem.
Mehr als 90 % der vom Gehirn verbrauchten Energie wird in spontanen Aktivitäten verbraucht. Durch diese Spontaneität lernt das Gehirn von selbst und ohne Anweisungen, indem es Wissen und Erinnerungen umschreibt und sogar selbst herstellt. Das ›kreative‹ oder ›mimetische‹ Lernen (bei dem wir durch Nachahmung der Handlungen und Verhaltensweisen anderer lernen) wird durch Spiegelneuronen bewirkt, die unsere sozialen Fähigkeiten trainieren und sogar unsere Identität formen.
Zu Beginn des Stücks stellt die zweite Violine ein Motiv als ›Muster spontaner Gehirnaktivität‹ vor. Die erste Geige und die Bratsche ahmen es nach und verändern es, indem sie das Gedächtnis ›neu schreiben‹, je nach ihren eigenen Fähigkeiten (Register und Tempo). Das Violoncello hingegen, dessen Spiegelneuronen anders funktionieren als die der anderen Instrumente, schließt sich an und entwickelt seine eigenen, einzigartigen Muster, die weitere Veränderungen bewirken und die Musik bereichern.
Das Stück wurde von Radio France für das Quatuor Diotima in Auftrag gegeben und spiegelt in gewisser Weise wider, wie die Mitglieder zu dieser Zeit waren.
Boids (2018) und Boids again (2019-20) sind vom Mechanismus der Bewegung großer Vogel- oder Fischschwärme inspiriert. Das Wort ›Boids‹ bezieht sich auf vogelähnliche Objekte (Bird-oids).
Den Wissenschaftlern zufolge basiert ihre feine Bewegung in einem Schwarm auf den folgenden drei einfachen Regeln:
– Steuern, um Kollisionen mit anderen Vögeln zu vermeiden
– Steuern in Richtung des durchschnittlichen Kurses der lokalen Schwarmkameraden
– Steuern, um sich in Richtung der durchschnittlichen Position (Massenschwerpunkt) der lokalen Schwarmkameraden zu bewegen.
Ich habe mich gefragt, ob sich diese Regeln auch auf die Form eines Streichquartetts anwenden lassen.
In Boids, einer vierminütigen Studie im Rahmen des Bildungsprojekts ›50 for the Future‹ des Kronos Quartetts, haben die beiden Violinen und die Viola jeweils eine Tonleiter mit unterschiedlichen Intervallen als ›Persönlichkeit‹. Sie bilden einen Schwarm, indem sie in dieselbe Richtung schwimmen und versuchen, Kollisionen mit den Tonhöhen zu vermeiden. Wenn ein Stein hineingeworfen wird (vom Violoncello), zerstreuen sie sich, aber nach einer Weile versammeln sie sich wieder zu einem Schwarm.
Boids again, komponiert für den 10. Kammermusikwettbewerb in Osaka, ist eine Fortsetzung von Boids und konzentriert sich mehr auf den Aspekt der Nachahmung und der Unterschiede zwischen den Individuen in der Bewegung eines Vogelschwarms.
in-side
Das Gehirn arbeitet nach einem System der Arbeitsteilung (getrennte Abteilungen wie visueller Kortex, auditiver Kortex, motorischer Kortex und Frontallappen). Ich weiß nicht, ob das etwas damit zu tun hat, aber Rhythmus und Melodie stimulieren nicht die gleichen Bereiche des Gehirns.
Davon inspiriert habe ich den vier Instrumenten unterschiedliche Funktionen zugewiesen (Rhythmus für das Violoncello, Ton für die zweite Geige, Melodie für die Bratsche und Akkorde für die erste Geige: das ist die Reihenfolge der Klangelemente, die Babys erkennen können). Innerhalb dieser Gemeinschaft können sie sich gegenseitig beobachten, und durch einen Prozess, der für die Gehirnfunktion „Empathie“ spezifisch ist, können sie sich die Handlungen der anderen vorstellen, vorhersagen und sogar an deren Ausführung teilnehmen.
Das erinnert mich auch an die Interpretation der Entstehung der Welt, wie sie in alten japanischen Büchern zu finden ist, wo die erste Gottheit ein zweites Wesen erschafft, das als Alter Ego gedacht ist. Aus der Harmonie dieser beiden Wesen entstehen dann die vielen Geister, die mit der japanischen Kosmogonie verbunden sind.
Eine verborgene Tonhöhe im perkussiven Ostinato (›Alter Ego‹) des Violoncellos offenbart sich allmählich durch den langgezogenen vibrierenden Klang der zweiten Violine. Diese Schwingungen, die im Diskurs hervorgehoben werden, werden zu einer ›Melodie‹, die von der Bratsche aufgegriffen wird, oder zu einem Akkord, der von der ersten Geige gespielt wird.
ψ(psi, 2023/24)
Wie hängt das Gehirn mit dem Geist zusammen?
Experimente haben gezeigt, dass das Gehirn durch elektrische Stimulationen zum Reagieren angeregt werden kann, der Verstand jedoch überhaupt nicht. Der Verstand ist in der Lage, sich zu erinnern, ohne dass das Gehirn ein Gedächtnis hat. Mit anderen Worten: Es handelt sich um zwei getrennte Mechanismen, und der Verstand scheint einen höheren Stellenwert zu haben als das Gehirn.
Einer Untersuchung zufolge ist die höchste Ebene der Gehirnmechanismen das Organ, das als Vermittler zwischen dem Verstand und anderen Gehirnmechanismen fungiert (der Ausführende des Verstandes), und der Verstand ist derjenige, der die Programmierung aller Mechanismen im Gehirn steuert. Man sagt, dass der Verstand als eine einzige Einheit funktioniert, als ob der Verstand ein Programm und das Gehirn ein Computer (mit spontaner Aktivität) wäre.
Übrigens haben die Ergebnisse eines Experiments mit dem Titel ›Doppelspaltexperiment‹ gezeigt, dass jenseits von Theorie und gesundem Menschenverstand unterschiedliche Realitäten auftreten, je nachdem, ob das menschliche Bewusstsein eingreift oder nicht. Theoretisch, oder wenn der Mensch beobachtet, hinterlassen die Elektronen, die den Doppelspalt durchqueren, zwei teilchenförmige Spuren an der Wand am Ende des Doppelspalts, aber wenn sie nicht beobachtet werden, hinterlassen sie zwei oder mehr wellenförmige Spuren. Mit anderen Worten: Das menschliche Bewusstsein (Geist?) schafft und bestimmt die ›Realität‹ dieser Welt. Das erinnert mich an die Aussage von Hippokrates, dass das Gehirn ein Organ ist, das als Vermittler zwischen dem Bewusstsein und der Außenwelt fungiert. Was ist also der Geist? Was bedeutet es, Bewusstsein zu haben oder nicht zu haben? Das Stück spiegelt diese Thesen nur vage wider.
Misato Mochizuki
The cycle Brains for string quartet reflects my interest in brain mechanisms and their relationship to behavior and the mind. The cycle consists of five pieces, played enchained or independently.
Brains (2017)is inspired by the spontaneity of the brain and its learning system.
More than 90% of energy used by the brain is consumed in spontaneous activity. By this spontaneity, the brain learns on its own without instructions, rewriting and even fabricating knowledge and memories. ›Creative‹ or ›mimetic‹ learning (where we learn through imitating the actions and behaviors of others), is brought about by mirror neurons, which train our social skills and even shape our identities.
In the beginning of the piece, the second violin presents a motif as a ›pattern of spontaneous brain activity‹. The first violin and viola imitate and change it, effectively ›rewriting memory‹, according to their own aptitudes (register and tempo). By contrast, the cello, whose mirror neurons function differently to the other instruments, joins in while developing its own unique patterns, bringing about further changes and adding richness to the music.
The piece was commissioned by Radio France for Quatuor Diotima and somewhat reflects how the members at the time were like.
Boids(2018) and Boids again (2019-20) are inspired by the mechanism of the movement of large flocks of birds or fish. The word ›boids‹ refers to bird-like objects (bird-oids).
According to the scientists, their fine movement in a flock is based on the following three simple rules:
– steer to avoid collisions with local flock mates
– steer towards the average heading of local flock mates
– steer to move towards the average position (center of mass) of local flockmates.
I was wondering if these rules can be applied to the way a string quartet is shaped.
In Boids, a 4 minute study in the frame of the Kronos Quartet’s educational project ›50 for the Future‹, the two violins and the viola each have a scale with different intervals as their ›personality‹, and they form a school by swimming in the same direction trying to avoid the pitches collisions. When a stone is thrown into them (cello), they disperse, but after a while they reassemble into a school.
Boids again, composed for the 10th Osaka Chamber Music Competition, is a sequel to Boids, focusing more on the aspect of imitation and differences between individuals in the movement of a flock of birds.
in-side
The brain works on a division of labor system (separate departments such as visual cortex, auditory cortex, motor cortex, and frontal lobe). I don’t know if this has anything to do with it, but rhythm and melody do not stimulate the same areas of the brain.
Inspired by this, I assigned different functions to the four instruments (rhythm to the cello, tone to the second violin, melody to the viola, and chords to the first violin: this is the order of sound elements that babies can recognize). Within this community, they can observe each other, and through a process specific to the brain function called empathy, they can imagine, predict, and even participate in the realization of each other’s actions.
It also reminds me of the interpretation of the genesis of the world as found in ancient Japanese books, where the first divinity creates a second entity thought of as an ›alter-ego‹. It is from the harmony of these two beings that the many spirits linked to Japanese cosmogony are subsequently born.
A hidden pitch in the percussive ostinato (›alter ego‹) of the cello gradually reveals itself through the drawn-out vibrating sound of the second violin. These vibrations, emphasized in the discourse, become a ›melody‹ taken up by the viola, or a chord played by the first violin.
ψ(psi, 2023/24)
How is the brain related to the mind?
Experiments have shown that the brain can be triggered to respond by electrical stimulation, but the mind does not at all. The mind is capable to remember without memory in the brain. In other words, the two are separate mechanisms, and the mind appears to be higher in rank than the brain.
According to a research, the highest level of brain mechanism is the organ that acts as an intermediary between the mind and other brain mechanisms (the executor of the mind), and the mind is the one that directs the programming of all mechanisms in the brain. The mind is said to function as a single unit, as if the mind = a program and the brain = a computer (with spontaneous activity).
By the way, the results of an experiment called the ›double-slit experiment‹ revealed that different realities beyond theory and common sense occur depending on whether human consciousness intervenes or not. Theoretically, or when humans are observing, electrons passing through the double slit leave two particle-shaped tracks on the wall set up at the end of the double slit, but when they are not observing, they leave two or more wave-shaped tracks. In other words, the human consciousness (mind?) creates and determines the ›reality‹ of this world… It reminds me of Hippocrates’ statement that the brain is an organ that acts as a mediator between consciousness and the outside world. So, what is the mind after all? What does it mean to have / not have consciousness? The piece vaguely reflects these propositions…
Misato Mochizuki