Mirela Ivičevićs Musik ist laut, aber nicht unangenehm. Sie ist dicht und überladen, aber nicht konturlos. Sie ist voller Abwechslung, Referenzen und schwindelerregender Stilbrüche, aber nicht beliebig. Sie ist unangepasst, aber nicht trotzig oder verneinend.
Mirela Ivičevićs Musik ist maximal lebensbejahend. Die Stücke der 1980 geborenen Kroatin verhandeln politische Anliegen, Fragestellungen um soziale und kulturelle Praktiken, kurz: verschiedene Arten von Themen, die unsere heutige Gesellschaft betreffen – und das immer auf eine unerschrockene, teils herausfordernde, provokante Art. Nichts wird versteckt, mit dreifach doppeltem Boden versehen oder mit spitzen Fingern in verstiegenen Hyperintellekt gefasst. Im Gegenteil: Alle Themen, mit denen sich Ivičević komponierend auseinandersetzt, sind greifbar und beim Hören der – dennoch komplexen – Stücke mitvollziehbar. Gleichzeitig ist Musik für die Komponistin längst nicht nur ein nützliches Gefäß für dringliche Aussagen. Vielmehr kreiert sie klingende Gestalten, die in höchstem Maße und zu jedem Zeitpunkt musikalisch auftreten. Obwohl sie alles andere als simpel zu erfassen, sangbar oder tanzbar sind, laden ihre Stücke zum (körperlichen) Mitfiebern ein. Sie lassen erkennen, dass ihre Urheberin sich intensiv mit Instrumentation, mit Klangnuancen, mit Dramaturgie, mit Struktur und Form auseinandersetzt. Und so wird beim Hören zweifelsfrei klar: Mirela Ivičević ist eine Komponistin, die etwas will.
›Sonic Fictions‹ nennt die mittlerweile in Wien lebende Künstlerin ihre künstlerischen Schöpfungen. Gemeint sind damit collagierte musikalische Gebilde, die sich aus Fragmenten unserer Kultur zusammensetzen – etwa Samples aus Filmen, Sprachfetzen oder Allusionen an Musikstile – und dadurch eine alternative Wirklichkeit generieren. »Ich spiele«, so die Komponistin, »gerne mit Ähnlichkeiten und Unterschieden, die entstehen, wenn man die Kontexte von verschiedenen – bekannten bzw. erkennbaren – Klangobjekten ändert. Auf diese Weise gestalte ich neue Verhältnisse, um alte zu hinterfragen, sie anders wahrzunehmen und zu verstehen. Das ist wie im Film: Man schafft einen Traum, einen Trug. Der Trug hat jedoch das Potenzial, etwas Wahres auszudrücken.«
Deutlich wird dieser Ansatz in Ivičevićs Komposition Orgy of References für Sopran und Live-Elektronik. Das Stück beginnt mit einzelnen, vorsprachlichen Lauten, die die Sängerin von sich gibt. Irgendwann kommen Worte dazu und es wird erkennbar, dass – wenn auch mit Unterbrechungen durch Sing-, Stöhn- und Schrei-Orgien – schlicht Ivičevićs Vita vorgelesen wird. Parallel dazu werden Samples vom Band abgespielt: Fetzen von Klaviermusik, orchestrale Einspieler, Geräusche aus Pornos und bekannte Film-Soundtracks – Materialien also, die einander fremder nicht sein könnten. Letztlich aber stiftet die in Rhythmus und Timbre an das Tape angepasste rezitativische Partie einen klaren musikalischen Sinnzusammenhang. So ist man als Hörer permanent dazu aufgefordert, größtmögliche Widersprüche und durchgehende Konstanz gleichzeitig wahrzunehmen. Indem die Komponistin hier überhaupt einen Zusammenhang herstellt – auch wenn er noch so absurd und konstruiert sein mag – entlarvt sie die Austauschbarkeit von typischen inhaltlichen Bausteinen, mit denen Künstlerbiografien oftmals verfasst werden.
Mirela Ivičević kombiniert Materialien verschiedenster Herkunft mit rasanten Stilwechseln und sprunghaften Assoziationen – egal ob alt oder neu, ob hoch- oder popkulturell. »Ästhetischer Pluralismus«, sagt sie, »ist wahrscheinlich eines der wichtigsten Merkmale meiner Arbeit. Neue Musik ist kein Genre. Es ist eine Denkart. Und ich sehe nicht ein, warum ich nicht die Möglichkeit haben sollte, alles zu instrumentalisieren, was mir gerade sinnvoll erscheint. Denn mich interessiert es, Räume zu schaffen, in denen Unterschiedlichkeiten zusammenleben können.«
So beispielsweise in Ivičevićs The F SonG für Ensemble und Elektronik, in dem verschiedene Stilistiken aufeinanderprallen – von Noise über elektronische Clubmusik bis hin zu typischen Gesten einer Jazzcombo. Den roten Faden der Komposition bildet buchstäblich das ›F‹, sowohl als Tonname und Tonart wie auch als Anfangsbuchstabe oder Teil von Akronymen. Aus einem ersten verhaltenen Ton wächst eine Klanglandschaft heran und entwickelt sich allmählich zu einem Fluss verschiedener musikalischer Zustände, die teils in starkem Kontrast zueinander stehen – etwa dann, wenn es im Werkkommentar heißt: »Futurism, FTW / Falling down / Fellatio (doesn’t really suit after falling down, but oh, well) / Fluids of flirting fairies who / French-kiss, flog and / Fuck, what else?«.
Der bewusst saloppe Tonfall im Textkommentar zu The F SonG ist keine Ausnahmeerscheinung in Mirela Ivičevićs Arbeiten. Immer wieder sprengt sie den Rahmen des Braven, der biederen Befangenheit, wie er das hochkulturelle Milieu nach wie vor zu umgeben scheint. Gezielt sucht sie nach subversivem Potenzial in den Klängen, das sie auf unterschiedliche Weise findet und offenlegt. Beispielsweise in ihrem Stück Scarlet Song für Schlagzeug und Elektronik. »Das Stück«, sagt Ivičević, »spielt mit dem eigentlich überholten, aber doch für viele Männer immer noch präsenten ›Madonna-Hure-Komplex‹ – dem Wunsch nach einer freizügigen Frau fürs Bett und einer züchtigen für die heimische Geborgenheit. Zu hören sind verschiedene Sprachsamples und im Zentrum steht eine einzelne – idealerweise weibliche – Schlagzeugerin. Mit ihrem Spiel erzeugt sie einen Klangraum, in dem die Dichotomie überwunden werden soll und die verschiedenen Sounds zu einem Ganzen verschmelzen. Es entsteht eine neue Kraft: die eines tiefgründigen, unabhängigen weiblichen Menschen, einer Frau, die tut, was immer sie will.« Vor allem zu Beginn des Stücks ist das Schlagzeugspiel rhythmisch wie melodisch stark mit den Stimmen vom Tonband synchronisiert. Zu hören sind perkussive Klänge und eine Reihe von Schimpfwörtern und Interjektionen. Im letzten Drittel des Stückes bricht unerwartet eine regelrechte ›Wall of Sound‹ über den Hörer herein: Ein virtuoser Trommel-Exzess und aggressive elektronische Loops lassen undurchschaubare polyphone Strukturen entstehen.
Eine ebenfalls hohe Ereignisdichte findet sich in Dreamwork – einer Ensemblekomposition mit Elektronik, die Ivičević als Soundtrack zu Peter Tscherkasskys gleichnamigem Experimentalfilm von 2001 geschrieben hat. In der Partitur betont die Komponistin, dass die Musiker im Falle von schwierig oder unmöglich zu erzeugenden Tonhöhen andere Töne spielen sollen. Wichtiger seien die Gesten und die klangfarbliche Qualität ihres Spiels. Ein Grund für diese Einstellung könnte Ivičevićs absolutes Gehör sein: »Ich kann«, sagt sie, »keine temperierte Musik hören, ohne dass mein Hirn automatisch die prominentesten Tonhöhen erkennt. Das ist allerdings nicht mehr so leicht möglich, wenn die Frequenzdichte sehr hoch ist. In diesem Fall also höre ich anders und kann mich entspannen. Ich sehe das als Befreiung.«
So setzt sich auch Baby Magnify für Ensemble aus denkbar vielschichtigen Klanggebilden zusammen, bei denen die Instrumente stellenweise wimmern, kreischen und schreien. Und auch hier mutet die Musik in puncto Klangästhetik ausgesprochen episodenhaft an: Freejazzartige, fast chaotische Gefüge transformieren sich zu groovigen Beatpassagen, die wiederum in tonale Dreiklangsflächen münden. »Heterogene Materialien«, so Ivičević, »in ein und derselben Komposition auftauchen zu lassen, ist mir ein – man könnte sagen – politisches Anliegen. Vermutlich hat das auch mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin in einem multikulturellen Patchwork-Land aufgewachsen. Für mich fühlt sich Pluralismus einfach richtig an.«
In Ivičevićs Heimatstadt Split ereignete sich 2015 eine Begegnung zwischen ihr, dem Saxofonisten Gordan Tudor und der Sopranistin Kaoko Amano. Es entstand die Idee, das Sopransaxofon und den menschlichen Sopran aufeinander treffen zu lassen. So komponierte Ivičević das Duo Jinx!. In dem Stück kommt es zu eigentümlichen klangfarblichen Mischungen – vor allem dann, wenn beide Stimmen sich im gleichen, oft sehr engen Frequenzraum aufhalten. Für eine spezielle Gruppe von Interpreten – in diesem Fall das von Ivičević mitgegründete Black Page Orchestra – entstand auch die Komposition Case Black für Ensemble und Elektronik. Das Stück bezieht die Komponistin auf die Operation ›Case Black‹ im Frühling 1943, eine gescheiterte Offensive der Achsenmächte in der Nähe des Flusses Sutjeska in Südost-Bosnien, die die Auslöschung der jugoslawischen Partisanen zum Ziel hatte. »Da mein kroatischer Großvater«, so die Komponistin, »einer unter den vielen gefallenen Partisanen war, hatte ›Case Black‹ schon immer einen besonderen Stellenwert in der Geschichte meiner, wie auch in der Geschichte zahlreicher anderer dalmatinischer Familien. Dennoch habe ich hier kein narratives Stück geschrieben. Es decken sich lediglich Ziel und Zusammensetzung der antifaschistischen Truppen in den blutgetränkten namensgebenden Ereignissen mit meiner bestehenden Faszination für die Koexistenz von Unterschieden.« So erstreckt sich auch in Case Black das stilistische Spektrum von Death-Metal-ähnlichen Passagen bis hin zu verspieltem, heiteren Gezwitscher. Und anstatt dass die Gegensätze dabei nur als Gegensätze auftauchten, entstehen immer wieder Momente der umso größeren Anziehungskraft von einem musikalischen Zustand zu einem gänzlich anderen.
Leonie Reineke