Die im kroatischen Split geborene Komponistin und Performerin Mirela Ivičević gehört zur quirligen Neue-Musik-Szene Wiens und ist zudem Mitbegründerin des experimentellen Black Page Orchestra. 2019 war sie Residenzkünstlerin im Rahmen des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. 2020 gab es bei Ultraschall Berlin ein Porträtkonzert mit Werken von Mirela Ivičević 2020, das vom Black Page Orchestra gestaltet wurde.
Mirela Ivičević selbst hat einmal über ihr Schaffen gesagt: „Meine Musik ist Sonic Fiction, die aus Realitätssplittern besteht, entführt aus ihrem natürlichen Umfeld in eine surreale Welt, mit dem Ziel, aus ihnen alternative Klangkonstellationen und Erlebnisse zu schaffen, die helfen können, ihren Wirklichkeitsursprung besser zu verstehen oder zu transformieren.“ Insofern behandelt Mirela Ivičević auch oft gesellschaftliche Fragestellungen in Ihren Werken, teils provokant und konkret, teils poetisch oder symbolisch unterfüttert, mitunter subtil und abstrakt. Klang kann auf jeden Fall subversiv sein, das ist ihre Gewissheit. Die Stücke von Mirela Ivičević thematisieren Aspekte gesellschaftlicher Ausgrenzung und Fragen der Identität, Themen wie Feminismus, Queerness und Otherness. Es geht ihr um Perspektiven auf physische und geistige Freiheit und um die Herausforderungen, die sich heute beispielsweise in den postfaschistischen Gesellschaften Europas stellen.
Mirela Ivičevićs neues Werk Heart Core hat sie für die besondere Besetzung des Ensembles LUX:NM komponiert. Der englische Titel Heart Core – „Herzkern“ oder „Herzstück des Herzens“ suggeriert ein launiges Spiel mit dem gleichklingenden Wort Hardcore, was eine harte Gangart in einem weiten Assoziationsfeld andeutet. Solche Doppeldeutigkeiten ziehen sich in den Titeln durch das Schaffen der Komponistin, die Sinn für mitunter skurrilen Humor, Ironie und Satire hat. Dies ist die magisch-poetische Seite in ihren Werken, die oft ernste Anliegen bei gesellschaftlichen Fragen in den Fokus nehmen.
In Heart Core geht Mirela Ivičević, die nicht zuletzt aufgrund ihrer engen Zusammenarbeit mit dem Black Page Orchestra viel Erfahrung mit den Interaktionen in einem Ensemble hat, geradewegs in die Herzkammer von LUX:NM. Sie erforscht die Dynamiken im Ensemblespiel und bietet den einzelnen Instrumenten einen Raum, in dem sie sich in unterschiedlichen Situationen begegnen können. „Der Name des Stücks, Heart Core, bezeichnet den Schwerpunkt meines Interesses im Kompositionsprozess, nämlich wie, in welcher Art und Weise, sich diese Instrumente in der Mitte treffen können, meeting each other half way“, hat sie im Interview für Ultraschall Berlin erklärt.
Heart Core kann gehört werden als ein Stück, das musikalische Empathie verhandelt, Musik, die den Instrumenten des Ensembles Spiegelneuronen einkomponiert, mit denen sie aufeinander eingehen. Denn in dieser Komposition treten die Instrumente nicht bloß in Dialoge, sondern sie finden sich jeweils passagenweise zusammen und versuchen dabei, die Klangqualitäten und die charakteristischen Spielweisen des jeweils anderen Instruments auf eigene Weise nachzuahmen und auf dessen typische Klangeigenschaften einzugehen. So nähern sich beispielsweise zu Beginn die schnellen Drehbewegungen im Akkordeon und in den Crotales, kleinen scheibenförmigen Aufschlag-Glocken mit fixierten Tonhöhen, einander an. Beide Instrumente reagieren ihrerseits auf die Triller im Sopransaxophon. Die Klaviersaiten, die mit einem Bleistift gespielt werden, und die Trompete, die hier lediglich kurze Tonrepetitionen einwirft, wirken an diesem Geschehen ebenfalls mit. Wenn das Klavier anschließend ausziselierte Aufwärtsbögen spielt, greifen auch die Bewegungen im Sopransaxophon und im Akkordeon weiter aus. Wenn später das Akkordeon einen Liegeakkord in enger Lage und das Cello einen Liegeton spielen, folgen auch die übrigen Instrumente tendenziell dieser Statik.
Es gibt auch variierte Echowirkungen innerhalb der verschiedenen Instrumente, etwa nach einer aufschwingenden Geste des Sopransaxophons im Klavier und Akkordeon. Als gemeinsame Klammern dienen zwischenzeitlich parallele Akkordbewegungen, etwa im Vibraphon, Klavier und Akkordeon oder parallele Läufe, beispielsweise im Sopransaxophon, Klavier und Akkordeon. Diese jeweils kurzfristigen Verbindungen im Verlauf des Stücks können eine Passage oder sogar auch nur einen Takt umfassen. Die Partnerschaften zwischen den Instrumenten wechseln beständig und in vielfältigen Nuancen die Kombinationen. Manche Begegnungen zwischen den Instrumenten kehren in Variationen wieder oder werden in neue Zusammenhänge gestellt.
Was besonders auffällt: Hierarchien drängen sich hier nicht auf. Kein Instrument trumpft gegenüber den anderen mit seinen Stärken auf, mit den Spielarten, die einen besonders klangstarken Auftritt garantieren. Die Bläser schmettern nicht mit voller Energie los, Klavier und Akkordeon setzen gerade nicht ihre gesamte akkordische Flächigkeit ein, das Cello hebt sich nicht mit weiten, ausgehaltenen Melodiebögen hervor, das Schlagzeug setzt sich nicht mit Rhythmusgewittern in Szene. Die einzelnen Instrumente gehen aufeinander ein und nehmen sich dazu jeweils etwas zurück. Bravouröse Egotripps haben in diesem vielschichtigen und einvernehmlichen Miteinander von Mirela Ivičevićs Heart Core keinen Platz. Dieses Ensemblewerk hat ein inspirierendes utopisches Potenzial. Und bietet eine Perspektive für ein pluralistisches Miteinander in der menschlichen Gesellschaft. Das wäre die politische Lesart dieser farbenreichen, im besten Sinne vitalen Musik.
Eckhard Weber