Die im kroatischen Split geborene Mirela Ivičević gehört zur quirligen Neue-Musik-Szene Wiens, ist Mitbegründerin der Avantgardeschmiede Black Page Orchestra und wurde zuweilen als »junge Wilde« bezeichnet, ihre Musik mitunter als übermütig verspielt oder hart charakterisiert. Sie selbst hat über ihr Schaffen gesagt: »Meine Musik ist Sonic Fiction, die aus Realitätssplittern besteht, entführt aus ihrem natürlichen Umfeld in eine surreale Welt, mit dem Ziel, aus ihnen alternative Klangkonstellationen und Erlebnisse zu schaffen, die helfen können, ihren Wirklichkeitsursprung besser zu verstehen oder zu transformieren.« Dementsprechend findet sich oft ein performativer, auch dramatischer Gestus in Mirela Ivičevićs Instrumentalmusik, die vor allem von dichten Strukturen, Überlagerungen und plötzlichen Umbrüchen, auch abrupten Schnitten geprägt ist, was alles eine enorme Energie entfaltet.
Für die Komponistin war es ein lang gehegter Wunsch, ein Stück für das Trio Accanto zu spielen, ein Kompositionsauftrag des rbb hat dies ermöglicht. Die Besetzung des Ensembles, Saxophon, Schlagzeug und Klavier, entspricht den gängigen Erwartungen an ein Jazztrio, das laut und energetisch spielt. Dass die drei Mitglieder gegen dieses Vorurteil erfolgreich anspielen, ist bereits sprichwörtlich, hat den griffigen Slogan »Ein Jazz-Trio, das keinen Jazz spielt« hervorgebracht. Mirela Ivičević hat im Interview für Ultraschall Berlin 2023, erklärt, dass sie in ihrem Stück für Trio Accanto ebenfalls die Idiome und Spieltechniken des Jazz vermieden habe und sogar den entsprechenden Eindruck des Ensembleklangs: »Was ich nicht wollte, war auf diesen Band-Klang zu gehen, was ja naheliegend wäre, sondern ich wollte mich auf den Klangaustausch zwischen den einzelnen Instrumenten konzentrieren.« Ihr Ziel war es, gerade das mit dem Jazz-Trio-Image verbundene, von lauter Bewegungsenergie aufgepumpte Macho-Image zu konterkarieren – auch wenn die drei Mitglieder des Trio Accanto sehr weit davon entfernt sind, solch ein Image zu pflegen.
Mirela Ivičević hat dieses Ensemble aus klangstarken Instrumenten als Möglichkeit ergriffen, etwas Neues für sich zu entdecken: »Čar II hat statische Momente, die Gelegenheit geben, den Klang, der gerade passiert ist, in Ruhe wahrzunehmen. So etwas kommt sonst in meiner Musik nicht vor. Denn oft sind meine Stücke sehr dicht und voller Klänge, die sehr schnell vorbeigehen, die ein Konglomerat ergeben. Der Nachteil ist natürlich, dass die feineren Bestandteile gar nicht herausgehört werden können, weil so viel passiert. Jetzt, in Čar II, habe ich versucht, die Sachen, die mir interessant erscheinen, vor allem auch Kombinationen in der Instrumentation, die ich noch nie vorher eingesetzt habe, gewissermaßen mit der Lupe zu vergrößern. Dafür habe ich mir im Stück an einigen Stellen Zeit genommen, etwa bei bestimmten Nachklängen.«
Ein Innehalten also und ein Heraustretern aus der Komfortzone perfekt eingeübter kompositorischer Praxis: »Ich konnte von diesen drei Musikern, die so viel anzubieten haben auf ihren Instrumenten, eine Menge lernen«, berichtet Mirela Ivičević. Das hat ihre musikalische Imagination ganz neu beflügelt, jedoch nicht im Sinne eines Schwelgens in der Fülle, sondern mit sorgsamer Auswahl: »Ich habe Dinge ausprobiert, die ich bisher noch nicht gemacht habe. Der Ansatz war, mich mehr auf diese einzelnen Klangkombinationen zu konzentrieren und sie in Ruhe erklingen zu lassen«, so die Komponistin. Ihr Ideal beim Einsatz der drei Instrumente: »Ich habe versucht, den Klang immer wieder zurückzunehmen, nach einer Zartheit gesucht bei diesen großen Instrumenten.«
Im scheinbaren Widerspruch zu diesem Vorgehen steht, dass auch beim Schlagzeug gerade sehr dominierende Instrumente ausgewählt wurden: Aus der Gruppe der Trommeln ausgerechnet die mächtige Große Trommel und das durchdringende Tomtom, von den Metallophonen Vibraphon, Tamtam und zwei Becken. »Diese sind dafür bekannt, dass sie alles klanglich überdecken können«, betont Mirela Ivičević, »sie werden eingesetzt, wenn man ein großes Forte im Orchester erreichen möchte oder auch bestimmte Hintergrundfarben gestalten will. Doch gerade von diesen typischen Verwendungen wollte ich wegkommen.«
Im Austausch mit Trio Accanto-Schlagzeuger Christian Dierstein hat Mirela Ivičević zu diesem Zweck bestimmte Spieltechniken und Klangwirkungen sorgsam ausgewählt, entsprechend ihrem Konzept eine bewusst beschränkte Auswahl getroffen: »Ich habe für mich ziemlich früh die Idee abgelehnt, dass ich alles, was möglich ist, verwenden möchte. Ich einem Stück von etwa zehn Minuten wäre es ansonsten eine Modenschau besonderer Klänge«, sagt Mirela Ivičević. So wird etwa die Große Trommel in dezenten Nuancen eingesetzt, beispielsweise auch gespielt mit den vibrierenden Handstücken von elektrischen Zahnbürsten ohne Bürstenaufsatz. Damit ergeben sich subtile mikrotonale Nuancen auf der Membran dieses riesigen Schlaginstruments.
Auf diese Weise werden mit verschiedenen Spieltechniken die einzelnen Instrumente klanglich zurückgenommen, in der Interaktion in ČAR II gehe es darum, so Mirela Ivičević, »dass jedes Instrument dem anderen Raum gibt oder es unterstützt. So sind spezifische klangliche Kombinationen entstanden. Ich fand es auch reizvoll, eine kleine Auswahl an Spieltechniken und Klängen zu benutzen, um dann mehr in den spezifischen Instrumentenklang einzutauchen und die Feinheiten herauszuarbeiten. Deshalb habe ich diejenigen Klänge, die ich am interessantesten auf den Instrumenten fand, jeweils in einen Zusammenhang gebracht und so einen Austausch zwischen den einzelnen Instrumenten geschaffen.« Zum gemeinsamen Ensemblespiel angesichts dieser Prämissen erklärt Mirela Ivičević: »Ich wollte ein Zusammenspiel, bei dem die Kommunikation und der Austausch ausbalanciert sind, deshalb müssen sich die einzelnen Instrumente mitunter zurücknehmen, um in einen neuen Zusammenhang zu kommen. Eines der Ziele war auch, dass sie an einigen Stellen so miteinander verschmelzen, dass man nicht merkt, dass es womöglich eine Konfrontation zwischen dem Schlagzeug und den anderen beiden Instrumenten gibt. Oder, wenn sie autonom sind, dass sie tatsächlich gleichwertig autonom sind. Dass es keine eindeutige Dominanz ergibt. Es ist letztendlich ein bisschen eine Übertragung auf die Musik, was sich auch bei Verhältnissen zwischen Menschen abspielt. Ich überlege mir oft, wie das Verhältnis zwischen Menschen am konstruktivsten gestaltet werden kann. Wo ist die Balance zwischen Mitteilung, Zuhören, Widerspruch, Konsens?«
Im Vorwort der Partitur von Čar II hat Mirela Ivičević diese Kunst des Ausgleichs verschiedener Kräfte in poetische Worte gesetzt, indem sie die Wortbedeutung des kroatischen Begriffs Čar in diesen Zusammenhang bringt. Čar kann mit »Zauber« oder »Reiz« übersetzt werden. Für Mirela Ivičević ist es auch »(ein Akt) der Magie. Die Suche nach der ungreifbaren, magischen Balance, Erzählen und Zuhören, Autonomie und Miteinander. Abstoßung und Anziehung, Festhalten und Loslassen. Alle diese reizenden Gegensatzpaare, die Gold in sich bergen, wenn sie im geeigneten Verhältnis aufeinander folgen.«
Dies bestimmt auch die Dynamik zwischen den drei Instrumentalparts in Čar II. Das bedeutet aber auch, dass es im Stück nicht bloß um Zurückhaltung geht, sondern ebenfalls um das geeignete Verhältnis zwischen den Einsätzen und dem Zusammenspiel. Deshalb gibt es durchaus auch turbulente und temperamentvolle Stellen in diesem Werk. Schließlich ist es Musik von Mirela Ivičević: »Die Energie-Levels sind hoch, hoffentlich, jedoch in diesem Fall mit konzentrierten Mitteln erreicht. Außerdem gibt es die Abfolge zwischen schnelleren und langsamen Passagen, teils unmittelbar sich ergebend, was für mich ziemlich natürlich wirkt. Für längere Stücke gelten andere Gesetzmäßigkeiten, aber für ein Stück von etwa zehn Minuten wie Čar II, so meine Erfahrung, funktioniert dieses Stop and Go sehr gut: Lass die Klänge ausklingen und dann werde wieder aktiver im Zusammenspiel.«
Ein erstes Stück mit dem Titel Čar hat Mirela Ivičević 2016 für das Trio Catch geschrieben, die drei Musikerinnen des Ensembles haben das Werk 2018 auch beim Festival Ultraschall Berlin vorgestellt. Diese Komposition für Klarinette, Cello und Klavier ist gedacht als furioses fünfminütiges klangliches Ritual, das Zauber entfacht, um die Stellung der Frau in der Gesellschaft, vor allem in der patriarchal geprägten kroatischen Gesellschaft, zu stärker, komponiertes Empowerment gewissermaßen, angeregt von den drei Frauen vom Trio Catch und von ihrem kraftvollen Spiel, das abgestandene Klischees von Weiblichkeit widerspricht. Dieser Faden wurde nun zwar nicht im Material, aber konzeptuell wieder aufgenommen: Nun hat Mirela Ivičević ein Stück mit gleichem Titel, Čar II, für ein Männertrio geschrieben und hat diesem ein musikalisches Ritual vorbereitet, somit einen Raum geschaffen, wo die drei Musiker ihrerseits den Zauber der Interaktion entfalten können. Und zwar völlig anders als es die veraltete gendertypische Vorstellung von Cis-Männern nahelegen würde. Mirela Ivičević gibt dem Trio Accanto mit Čar II Raum, ganz andere, vielleicht sogar neue Seiten von sich zu zeigen. »Ich biete den drei Mitgliedern eine Ritualvorlage, aber letztlich es ist in ihnen schon angelegt. Nicht jeder kann zaubern, sie jedoch haben das Talent dazu. Die Magie wird sicherlich entstehen, weil sie alle drei diesen notwendigen Zauber in sich haben. Das war damals bei Trio Catch so, und so ist es nun bei Trio Accanto ebenfalls.«