Fasziniert vom Klang des Nordens: Die Kraft experimenteller Poesie des 20. Jahrhunderts aus Dänemark hat den in Bilbao geborenen Komponisten Mikel Urquiza zu seinem in den Jahren 2018 und 2019 entstandenen Werkzyklus Alfabet inspiriert. Er hat dafür mehrere Gedichte aus der gleichnamigen Lyriksammlung der dänischen Dichterin Inger Christensen verwendet. In einem Werkkommentar zur Uraufführung 2019 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik hat Mikel Urquiza über seine Auseinandersetzung mit der Lyrik von Inger Christensen in Alfabet geschrieben:
„Die 1981 veröffentlichte Gedichtsammlung Alfabet von Inger Christensen ist ein Buch über das Alphabet. Genauer gesagt über die schöpferische Kraft des Alphabets: Erst durch die Benennung erhält das Benannte eine Existenz. Diesen generativen Ansatz bestimmen formale Entscheidungen: Die ersten Gedichte der Sammlung listen existierende Dinge auf, Namen von Pflanzen, Tieren oder chemische Elementen. Die Fibonacci-Reihe (in der jedes Element der Summe der beiden vorherigen entspricht: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13 …) entscheidet über die Länge jedes Gedichts.«
Die einzelnen Stücke des insgesamt etwa eine Viertelstunde dauernden Vokal-Kammermusikwerks Alfabet von Mikel Urquiza, den Sarah Maria Sun mit Solisten des Ensemble Musikfabrik 2019 in Witten uraufgeführt hat, sind mit unterschiedlichen Instrumenten besetzt. Das kurze vierte Stück aus Alfabet, fiskeheijren findes, ist ein Duo mit Sopran und Klarinette. Die in anderen Stücken erklingende Trompete oder das Schlagzeug sind hier ausgespart. fiskejeijren findes hat den Charakter eines innigen Tanzes zwischen menschlicher Stimme und Klarinette. Beide geben sich in einem einvernehmlichen Dialog gegenseitig Impulse für musikalische Gestalten, etwa zu Beginn, wenn die Sopranstimme in die quirligen Wellenbewegungen der Klarinette einsteigt oder später, wenn beide an einen Ruhepunkt angelangen. Um den sinnlichen Reiz des furiosen, spielerischen Bilderreigens in seinem ganzen sympathischen Übermut in der Vorlage von Inger Christen spürbar zu machen, genügt schon ein Zitat vom Anfang in der deutschen Übersetzung: »den fischreiher gibt es, mit seinem graublau gewölbten / rücken gibt es ihn, mit seinem federschopf schwarz / und seinen schwanzfedern hell gibt es ihn; in kolonien / gibt es ihn; in der sogenannten Alten Welt; / gibt es auch die fische; und den fischadler, das schneehuhn (…)«Im weiteren Verlauf werden die Naturbeobachtungen auch auf Erwähnungen von »Spaltprodukten«, systematischen Fehlern und »Fernlenkungen« ausgeweitet. In seinem bereits erwähnten Werkkommentar anlässlich der Wittener Uraufführung von Alfabet bringt Mikel Urquiza seine Begeisterung über die Verse von Inger Christensen zum Ausdruck: »Ich habe Alfabet in einer zweisprachigen dänisch-französischen Ausgabe kennengelernt. Die für mich geheimnisvolle nordische Sprache (in der ich die langen Winternächte hören konnte, Hasen, die sich unter Farnen verstecken, wilde Erdbeeren), weckte in mir den Wunsch, die Worte laut auszusprechen, um die Welt zu entdecken, die sich hinter ihnen verbirgt. Man kann es nur versuchen. Wie in jeder anderen Sprache bleibt das Wesen eines Wortes unaussprechlich, sein Bedeutungshof grenzenlos und sein Geheimnis unberührbar.« Diese Begeisterung am Klang der ungewohnten Sprache, der Reichtum der phonetischen und artikulatorischen Entdeckungen, diese sinnliche Lust daran, die ist auch der Singstimme in Alfabet anzumerken, nicht zuletzt in den ausgiebigen Koloraturen und spielerischen Verzierungen der einzelnen Silben.
Eckhard Weber