Der spanische Dichter und Dramatiker Federico García Lorca, 1898 in der Nähe der andalusischen Stadt Granada geboren, 1936 von Franquisten ermordet, inspirierte viele Komponisten zur Auseinandersetzung mit seinem Werk. Zu den Musikschaffenden, die Texte García Lorcas vertonten, gehören Günter Bialas, Paul Bowles, George Crumb, Louis Durey, Wolfgang Fortner, Roberto Gerhard, Hans Werner Henze, Wilhelm Killmayer, Bruno Maderna, Luigi Nono, Maurice Ohana, Francis Poulenc, Aribert Reimann, Silvestre Revueltas, Dimitri Schostakowitsch, Heitor Villa-Lobos und Stefan Wolpe, um nur einige zu nennen. So vielschichtig das dichterische Werk García Lorcas ist, so vielfältig fallen auch die Kompositionen aus, die auf Vorlagen des Dichters entstanden sind: existenzielle Fragen nach Liebe und Tod, poésie pure, Surrealismus, Sozialkritik, Elemente aus der Folklore, etwa aus dem Flamenco, die Lebenswelten der calé (die Eigenbezeichnung der spanischen Roma) und auch der Aspekt des antifaschistischen Widerstands boten sich für viele Komponierende als Anknüpfungspunkte aus dem umfangreichen Oeuvres García Lorcas und angesichts seiner Biografie an.
In jüngerer Zeit hat sich die brasilianische, in Paris lebende Komponistin Michelle Agnes Magalhaes wiederholt mit dem Werk García Lorcas beschäftigt. Magalhaes, die in ihren Werken nicht zuletzt das Spannungsverhältnis zwischen Komposition und Improvisation erforscht, schrieb 2016 ihr Stück Lorca Fragments, eine fünfteilige Musik für Flöte, Klarinette, Bratsche, Violoncello und Harfe. Bei Ultraschall Berlin 2023 führt das Zafraan Ensemble die 2020 überarbeitete Version dieser Komposition auf. Michelle Agnes Magalhaes hat sich bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Werk von García Lorca in Lorca Fragments auf den Begriff des duende konzentriert. Duende bedeutet im Spanischen wörtlich »Kobold«, im Kontext der Flamencotraditon jedoch eher »Dämon«. Der Begriff weist auf die suggestive Macht hin, die bei der Praxis des Flamencos entsteht, die Inspiration, die etwa die Sänger:innen erfasst, die geballte Energie beim improvisierten Flamencogesang, eine Intensität, eine Art Ritual, eine extreme Konzentration und Versenkung, die bis zu tranceähnlichen Zuständen reichen kann.
Federico García Lorca hat sich intensiv und sehr differenziert mit dem Flamenco befasst. Dies wird deutlich in seinen Gedichtzyklen Romancero gitano (»Romanzen der Calé«, 1928) und Poema del cante jondo (»Dichtung des tiefinneren Flmanencogesangs«, 1931). Auf das Phänomen des duende konzentrierte er sich in seinem Vortragtext Juego y teoría del duende (»Spiel und Theorie des Duende«), der Michelle Agnes Magalhaes als Inspiration zu ihrem Stück Lorca Fragments diente.
Michelle Agnes Magalhaes, welche Bedeutung hat das literarische Werk von Federico García Lorca für Sie?
Das Schaffen von Federico García Lorca zeigt mir ein Verständnis und ein Bewusstsein für den kreativen Prozess auf. Dies verdeutlicht er beispielsweise in seinem Vortrag Juego y teoría del duende, den er 1933 in Buenos Aires gehalten hat. Mich fasziniert die Kraft seiner Lyrik Außerdem sehe ich bei García Lorca ein umfassendes künstlerisches Engagement: formal, politisch und kulturell.
Welche Werke oder Aspekte aus dem vielschichtigen Œuvre von García Lorca haben Sie bei der Komposition Ihres Stückes Lorca Fragments inspiriert?
Vor allem Juego y teoría del duende. Mich fasziniert die geistige Reife und die Ehrlichkeit dieses Textes. Darin hat er das Konzept des duende herausgearbeitet, das aus der Flamenco-Tradition kommt. Der duende, das ist eine innere Kraft, eine kreative Macht, die aus dem Körper kommt, in einer Drastik wie bei einem Kampf auf Leben und Tod, eine Art der Besessenheit. In seinem Vortragstext stellt García Lorca den duende der Muse gegenüber, die eine formgebende Kraft ist, die prägend für die künstlerische Ausgestaltung ist, etwas, das jedoch den Dichter schwach werden lässt, ihn fragil erscheinen lässt, und dem Engel, einer Stimme vom Himel. Muse und Engel erscheinen beide im Vergleich zum duende als etwas Entferntes, außen Liegendes. Bei García Lorca heißt es: »Engel und Muse kommen von außen; der Engel verleiht Talent, die Muse Form (…) Den duende aber muss man in den letzten hintersten Behausungen des Blutes aufrütteln. Man muss den Engel verjagen, der Muse einen Fußtritt geben.«
Im Vortrag erzählt García Lorca auch von einer Flamencodarbietung der Sängerin Pastora Pavón, genannt »La Niña de los Peines«, in Cádiz. Er schildert, wie der duende von ihr Besitz nimmt: »Sie musste sich des Wissens und der Sicherheit entledigen, das heißt, ihre Muse fortschicken, verlassen und schutzlos bleiben, bis ihr Dämon kommen und sich herablassen würde, Leib gegen Leib mit ihr zu kämpfen. Und wie sie sang! Ihre Stimme spielte nicht mehr: Ihre Stimme war ein Blutstrahl, geadelt durch Schmerz und Ernst.« Welche Konsequenzen hatte Ihre Beschäftigung mit García Lorcas Ausführungen für Ihr Stück?
Alle diese drei Figuren, duende, Muse, Engel, dienten als Inspirarion für Lorca Fragments und seine Klänge. Ich habe mit Klängen geabeitet, die an Flügelschläge erinnern, die mit Engel assoziiert werden können, und auch mit sehr hohen und schrillen Klängen, die für Engelrufe stehen können, sowie mit volltönenden Harfenakkorden, die auf die Muse verweisen. Aber im Zentrum stand für mich, etwas Wildes zu erwecken, den Bogen der Streichinstrumente auf diese Weise singen zu lassen. Deshalb habe ich die beiden Streichinstrumente, Bratsche und Cello, mit zwei Lagen Aluminiumfolie präpariert. Dies führt spieltechnisch dazu, dass die Ausführenden nicht genau kontrollieren können, was passiert. Sie spielen somit ein gefährliches Spiel.
Das dürfte ganz neuen Klangqualitäten ergeben …
Ja, auf diese Weise sind die Saiten der Instrumente oft auf eine Art gedämpft. Sie erinnern an das Gefühl, wie die Kehle vor einem heftigen Schrei brennt. Gegen Ende des Stücks erscheinen eher lyrische Melodielinien in der Klarinette und Pizzicati in der Bratsche. Sie stehen für die Stimme der Lyrik von Federico García Lorca, für seine Dichtung, die gewaltsam zum Verstummen gebracht wurde, als er 1936 zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs ermordet wurde.
Wie ist darüber hinaus das Zusammenspiel der Ensembleinstrumente in Lorca Fragments gestaltet?
Die Harfe ist verschiedenartig präpariert, mit Aluminiumfolie, Korkstücken, zwei Krokodilklemmen aus dem Baumarkt, Pferdehaar und Papier. Sie wird außerdem teils mit einem Cello- oder Kontrabassbogen gespielt. Die Harfe hat in meinem Stück viele Funktionen, sie ist hier praktisch ein Instrument, das verschiedene Instrumente in sich hat: Percussion, Glocken, Flamencogitarre. Sie ist auch ein großer Resonanzkörper, der alle anderen Instrumente zusammenbringt. Die Präparierung von Bratsche und Cello mit Aluminiumfolie ergeben Klanglichkeiten, die nah am menschlichen Atem sind. Auf diese weise nähern sich die beiden Streichinstrumente den Blasinstrumenten an, der Flöte und der Klarinette. Mit ihren Seufzern, Atemgeräuschen, ihren Klängen, die wie Schluckauf wirken und an das Sirren von Insekten erinnern, werden sie fast zu Ablegern dieser Blasinstrumente. Das Klangmaterial ist auch eng mit dem kreativen Prozess verbunden, so wie ihn Federico García Lorca in Juego y teoria del duende beschreibt. Ich habe versucht, subtile physiologische Klänge hörbar zu machen, die ich während der Arbeit des Komponierens wahrnehme.
Insofern geht Ihre Musik also noch über die bloße Auseinandersetzung mit einem Aspekt des Schaffens von Federico García Lorca hinaus?
Lorca Fragments ist für mich die konkrete klangliche Umsetzung eines Kompositionsprozesses, selbst die Klänge im Hintergrund erfahren in gewisser Weise eine Dramatisierung. Diese Musik ist auch eine Ausdrucksform winziger Elemente, von Fragmenten, die zusammengestellt werden, somit als ein Ausdruck eines Prozesses, als eine Möglichkeit, um die Spontanität eines kreativen Aktes deutlich zu machen. Auf diese Weise möchte ich auch den Abstand zwischen Komponistin und Ausführenden verringern.
Interview: Eckhard Weber