Der Name „Monsieur Croche“ liefert den entscheidenden Hinweis, wer sich hinter der Initiale „D.“ in Maurcio Kagels 1994 in Den Haag uraufgeführtem Stück Interview avec D., pour Monsieur Croche et Orchestre verbirgt: Monsieur Croche antidilettante, so der originale französische Titel, ist eine Zusammenstellung der ästhetischen Aufsätze, Feuilletons, Essays sowie Rezensionen von Claude Debussy sowie einiger Interviews. Die Publikation wurde erstmals 1921 veröffentlicht, drei Jahre nach seinem Tod. Die Figur des Monsieur Croche ist ein rhetorischer Kniff, den sich Debussy als Musikschriftsteller 1901 für eine Reihe von Artikeln in der Revue blanche ausgedacht hat. Als „Antidilettant“, so Croches Berufsbezeichnung in einem der Feuilletons von Debussy, stellt jener das Alter Ego des Komponisten dar. Dies legen die Beschreibungen über Monsieur Croches Äußerungen nahe, die sich gegen Akademismus wenden und die Freiheit in der Musik betonen.
Mauricio Kagel hat noch in Argentinien während der 1940er Jahre zum ersten Mal Monsieur Croche antidilettante in einer spanischen Übertragung gelesen, wie er sich später erinnerte: „Ich war von der Offenheit, Frische und Schärfe einiger Gedanken gefangen. (…) Jedenfalls war dieses eines der Bücher, die ich 1957 auswählte, um mit nach Europa zu nehmen, obwohl ich noch nicht wusste, warum.“ Fast 40 Jahre später, mittlerweile etablierter Komponist und Professor für Neues Musiktheater in seiner Wahlheimat Köln, wählte er einige Passagen aus Interviews, die Debussy zwischen 1908 und 19111 gegeben hatte, im französischen Original des Monsieur Croche Antidillettante für ein Werk mit großem Orchester und Sprecher aus. „Ich habe verschiedene Interviews zu drei klar gegliederten Abschnitten zusammenmontiert und mich dabei auf eine intime, fast ausschließlich auf sich selbst reflektierende Gedankenwelt beschränkt. Es kommen keine Namen oder Werktitel vor, nur Empfindungen, Vermutungen, Beschreibungen der kompositorischen Wirklichkeit, Vorahnungen, Selbstzitate, wechselnde Meinungen und Betrachtungen eines Menschen, der nie aufhört, sich zu befragen, wie die Umsetzung seiner innersten Bilder ästhetisch und musikalisch in Einklang gebracht werden können“, hat Kagel einmal erläutert.
Die folgenden Beispiele aus dem zu rezitierenden Text in Kagels Interview avec D. geben einen Eindruck der von Kagel ausgewählten Schwerpunkte im Denken Debussys: „Ich revolutioniere nichts, ich demoliere nichts. Ich gehe ruhig meinen Weg und mache, anders als die Revolutionäre, keinerlei Propaganda für meine Ideen.(…) Es gibt keine Debussy-Schule. Ich habe keine Schüler. Ich bin ich. (…) Es ist manchmal schwierig, über zeitgenössische Musik zu reden. Die Ereignisse überschlagen sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, und wenn man versucht, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, merkt man, dass es oft nicht möglich ist. (…) Wer wird das Geheimnis der musikalischen Komposition ergründen? Das Rauschen des Meeres, die geschwungene Linie eines Horizonts, der Wind in den Blättern, der Ruf eines Vogels, all das vermittelt uns vielfältige Eindrücke. (…) Ich verabscheue Lehrmeinungen und ihre Anmaßung.“
Der Musikwissenschaftler Jürg Stenzl hat die Debussy-Zitate in Kagels Interview avec D. einmal als „eines der treffendsten Selbstporträts (…), die es von Mauricio Kagel gibt“, bezeichnet. Auch Kagel wehrte sich entschieden auch dagegen, sich von einer Schule oder doktrinären Kunstrichtung vereinnahmen zu lassen. So beteuerte er einmal in einem Interview aus Anlass der Verleihung des Siemenspreises 2000: „Ich bin glücklich, in Argentinien geboren zu sein, denn so wurde ich nicht mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie konfrontiert, der in Europa fatale Hemmungen und Aggressionen rechtfertigte.“
Kagel setzt diese Textcollage aus den Interviewantworten Debussys in seiner Komposition einem beredten instrumentalen Geschehen aus: „In Interview avec D. ist das Orchester der Interviewer und vieles klingt so, als ob das Orchester fragen und Debussy die Antworten geben würde“, hat er einmal erklärt. Letztlich ist dieses Werk entgegen der Besetzung mit Sprecher und Orchester, die ein Melodram naheliegen würde, eine Art Duodram, ein theatraler Dialog. Typisch für Kagel, haben auch seine Werke für den Konzertsaal ganz im Sinne seines Ansatzes eines „Instrumentalen Theaters“ musikdramatische Züge. Das in Interview avec D. eingesetzte Orchester ist farbenreich, schillernd, glitzernd und sehr gestisch. Es kommen allerlei Stilelemente aus dem Arsenal der Opern-, Ballet- oder Programmmusik des Fin de siècle vor. Entscheidend ist jedoch, dass sich diese Musik dennoch von jener Debussys unterscheidet. In der Instrumentation ist sie „dicker“, massiver und blockhafter als dessen duftig flirrende Orchestersätze. Auch das Schlagzeug wird kompakter und geballter eingesetzt, ebenso die Blechbläser. Bei Debussy wären die Flöten träumerischer, die Holzbläser markanter, die Streicher schlanker. Heftige expressive Ausbrüche und spektakuläre Klangeffekte, wie sie in Interview avec D. stellenweise auftauchen, hätte Debussy – der Meister des Subtilen, des dezenten Ausdrucks, der konzis ausgearbeiteten Andeutung – abgelehnt. Somit gestaltet Kagel bewusst eine Musik, die all das, was Debussys Klangwelt ausmacht, knapp verfehlt. Demnach reden in diesem von Kagel gestalteten Interview Debussy respektive sein Alter Ego Monsieur Croche und der vielfältig instrumental klingende Interviewer offensichtlich aneinander vorbei. Es kommt letzten Endes zu keiner Verständigung. Genau diesen – offenbar auch persönlich oft erlebten – Eindruck wollte Kagel hier sinnlich transportieren. Mit Blick auf Interview avec D. hat der Komponist gerade sein Unbehagen mit Interview-Situationen einmal durchscheinen lassen: „Die Fragen und aufgeregten Kommentare des Interviews bleiben allein dem Orchester überlassen. Es sind Bestätigungen des immer wiederkehrenden Rituals: der Auskunftgebende verzweifelt am eigentlichen Sinn und der Tragweite des Interviews, entweder, weil er von der Oberflächlichkeit des Ganzen überzeugt ist, oder, weil aufrichtig interessiert an einem grundsätzlichen Gespräch weiß, dass für eine ausführliche Darstellung seiner Ideen in der vorgesehenen Ausgabe kein Platz ist.“
Eckhard Weber