Als Márton Illés vor sieben Jahren seine Werkreihe mit dem Titel Psychogramm begann, bemerkte er in einem Kommentar: »Meine Liebe zur körperhaften, gestisch betonten Ausdruckweise scheint nicht nachzulassen, im Gegenteil: Ich suche Wege, wie ich feinste körperliche Gesten, Reflexe noch direkter, nackter und präziser darstellen kann. Kein noch so gut geschriebener Text schafft es, intimste psycho-physische Regungen mit einer Unmittelbarkeit und einem Wiedererkennungspotenzial zu vermitteln wie der physisch wirkende und sich energetisch in der Horizontalität der Zeit entfaltende Klang.« Praktisch nebenbei hält hier Márton Illés ein leidenschaftliches Plädoyer für die expressive Kraft und die direkte emotionale Wirkmächtigkeit der Kunstgattung Musik. Er betont auch, in seinen Ausführungen, die Klangsprache sei »befreit von jeder Wohltemperiertheit und (nicht ganz ohne Angst), von jeglicher Eleganz.«
Die in diesem Kommentar auf das erste Stück seiner Psychogramm-Reihe bezogene Herangehensweise gilt auch für alle weiteren Stücke von Márton Illés‘ Werkreihe mit wechselnden Soloinstrumenten. Sie alle nehmen einen spezifischen Gefühlszustand in den Fokus. Auf Ungarisch wird er im jeweiligen Titel genannt: Psychogramm I. »Jajgatós« (»Jammernd«) für Viola solo (2014), Psychogramm II. »Rettegös« (»Ängstelnd«) für Klarinette solo (2015), Psychogramm III. »Elfojtós« (»Verdrängend«) für Flöte solo (2018). In einer erläuternden Werknotiz zu Psychogramm II. »Rettegös« hat Márton Illés noch weiter ausgeführt, in welchem Maße die fokussierten emotionalen Zustände die musikalische Gestaltung in den entsprechenden Kompositionen bestimmen: »Was mich dabei fasziniert, ist nicht die bloße ›Verklanglichung‹ dieser Erscheinungen, sondern das Erfassen der energetischen Natur von psycho-physischen Vorgängen, Reflexen und Prozessen, die uns Menschen innewohnen.« Er suche, so der Komponist weiter, »nach einer intimen Klangwelt, in der erweiterte Spielarten in einem flexiblen und permanent bewegten Kontext erscheinen. Es ist eine sehr intensive ›Nervenmusik‹ mit einer breiten Palette hörbar gemachter psycho-physischer Regungen, die ich in mir und in meiner Umgebung finde.« Anders als allerdings zu vermuten wäre, dass nämlich zunächst die Recherche über Gefühlszustände am Anfang dieser Werkreihe gestanden hätte, ist sie stattdessen das Ergebnis einer großen Lust des Komponisten am Ausprobieren unterschiedliche Klänge und Spieltechniken. Er habe eine ganze Sammlung sehr charakteristischer, ungewöhnlicher Klangmöglichkeiten und musikalischer Gesten in der Schublade, verrät Márton Illés im Gespräch für Ultraschall Berlin. Und irgendwann kam ihm die Idee, sie bestimmten menschlichen Regungen zuzuordnen, so der Komponist.
Das 2019 entstandene Solostück Psychogramm IV für Violoncello solo (2019) trägt den ungarischen Titel »Durcáskodós«, was mit »Schmollen« übersetzt werden kann. Im Interview für Ultraschall Berlin beschreibt Márton Illés, was er bei diesem Gefühlszustand konkret in den Blick genommen hat, nämlich »das krampfhafte, manchmal auch (aber nicht nur) kindliche Beharren, das störrische Festhalten am eigenen Willen, an den eigenen Vorstellungen und auf die Reflexe, Verhaltensweisen, Spannungen und Neurosen, die diese im betroffenen Menschen auslösen.« Schmollen bedeutet, dass Kommunikation verweigert wird, es ist der Rückzug aus der Auseinandersetzung, ein Verschließen nach außen und damit einhergehend auch ein aggressives Abwehren des Außen. Ein inneres Drama. In Psychogramm IV sind die Einsätze des Violoncellos, somit seine Mitteilungen, disparat und zerrissen. Es sind kurze, in sich und um sich kreisende Einwürfe, die gar nicht erst den Dialog suchen. Dazwischen stehen Pausen, die Absenz akustischer Mitteilungen, diese jedoch nicht als Energieabfall, sondern als angespannte Ruhe vor einem möglichen Sturm, auch wenn dieser bloß in kurzen Ausbrüchen hervortritt. Márton Illés fordert zu Beginn der Partitur ausdrücklich »unter großer Spannung auch die Pausen«. Die kontrastreichen Gesten wechseln in ihrem Charakter in schneller Folge. Das Material darin weist große Vielfalt auf, mit einer Vielzahl ausgeweiteter Techniken wird diese Ausdruckspalette erzielt. Gefordert werden in der Partitur beispielsweise starker Bogendruck, Kreisbewegungen des Bogens beim Streichen, eine Verlagerung des Bogens beim Spiel auf den Saiten in die Vertikale, stellenweise soll heftig mit dem Bogen über die Saiten gewischt werden, gläsern wirkende Flageoletts werden eingesetzt.
Immer wieder zieht sich diese Musik jedoch auch ins Innere zurück. Dies zeigt sich an Stellen, die das Spektrum an gedämpften und stimmlosen, auch dumpfen Klangqualitäten ausleuchten: »luftig, matt pastelln« wird da etwa gefordert, an einer anderen Stelle soll »nur Holzgeräusch« zu hören sein. Dem gegenüber stehen kurze, resolute Ausbrüche, nervöse, beharrliche Melodiebewegungen in einem engen Tonraum, nervöse akkordische Glissandi, obsessiv aufblitzende Akzente. Das Wiederkehren mancher musikalischer Gestalten hinterlässt den Eindruck einer Spirale, der nicht entkommen werden kann. Es gehört zur gestalterischen Kraft in Psychogramm IV, dass die Ausgangsidee »Durcáskodós«, jene dem »Schmollen« verpflichtete, bewusst eingesetzte Inkohärenz im Verlauf eine starke, unmittelbare Energie freisetzt und einen Spannungsbogen bis zum Ende beschreibt. Am Schluss steht ein letzter Seufzer, das innere Drama scheint – für dieses Mal – überwunden zu sein.
Psychogramm IV. »Durcáskodós« von Márton Illés wird bei Ultraschall Berlin 2021 als Uraufführung der neuen, erweiterten Version präsentiert.
Eckhard Weber/rbbKultur