(2021) 10‘ für Sopran, Schlagzeug und Elektronik
Die italienische Komponistin Marta Gentilucci setzt sich in vielen Ihrer Werke mit der menschlichen Stimme auseinander und gerne auch mit deren Möglichkeiten in der Verbindung mit Live-Elektronik. Die Komponistin, die auch klassisch ausgebildete Sängerin und Philologin ist, besitzt nach vielen Jahren der Erfahrung mit der Verbindung von Vokalem und Elektronik eine große Expertise auf dem Gebiet. In den letzten zehn Jahren entstand eine umfassende Werkreihe von Vokalkompositionen mit unterschiedlicher Instrumentalbeteiligung, mit und ohne Elektronik: Mandeln (2008/09) für Bariton and Live-Elektronik, Lob der Ferne (2009) für Sopran, Percussion and Live-Elektronik, Am Grat (2009) für Countertenor and Klarinette, »… tutt‘occh« (2010/11), für Alt, Ensemble and Live-Elektronik, Da una crepa (2011/12) für Sopran, Vokalensemble, kleines Ensemble und Live-Elektronik, Aus… am Grat (2013) für Sopran und Ensemble. Zu diesem Werkkorpus gehört auch Auf die Lider für Sopran, Schlagzeug und Live-Elektronik. Alle Texte der Vokalparts, die für diese Werke herangezogen wurden, stammen aus dem Gedicht MANDELN ATMEN – Respiro di mandorla der aus Florenz stammenden Lyrikerin und Übersetzerin Elisa Biagini. Ihre Lyrik wird von der Kritik als »metaphernstark« bezeichnet. Elisa Biagini selbst sagt über ihre Texte: »Selbst wenn es um scheinbar persönliche Details geht, kommt es darauf an, eine gemeinsame Erfahrung, den gemeinsamen Schmerz des Lebens zu erfassen.« Sie möchte, so die Dichterin, »die Erfahrungen des Lebens und seine Widersprüche analysieren.«
Der Einsatz des Textmaterials von Elisa Biagini in der Komposition Auf die Lider ist exemplarisch für die Vorgehensweise von Marta Gentilucci in ihrer Umgang mit Lyrik: Sie wählt aus der vielstrophigen Vorlage – die ohnehin aus fragmentarischen Bausteinen besteht – einzelne Versfragmente aus. Marta Gentilucci spricht in diesem Zusammenhang von »«Inseln«. Für ihre Musik bringt Marta Gentilucci diese in eine neue, eigene Reihenfolge. Die einzelnen Fundstücke betrachtet sie als »Erinnerungen« an die Gedichtvorlage. Die Quelle all dieses Textmaterials, das erwähnte Gedicht MANDELN ATMEN – Respiro di mandorla von Elisa Biagini, besteht aus einer Abfolge von relativ kurzen, skizzenhaften Wahrnehmungen und Schilderungen in italienischer Sprache, in die immer wieder – in Großbuchstaben – deutschsprachige Formulierungen eingebaut sind. Diese Zitatfragmente stammen aus verschiedenen Gedichten von Paul Celan und – in deutscher Übersetzung – von Ossip Mandelstam. Wenn somit das Gedicht von Elisa Biagini gewissermaßen als Metatext gelten kann, so wird die Verwendung der Textfragmente aus diesem Metagedicht in Marta Gentiluccis Stück zum Meta-Metatext.
Marta Gentilucci spricht bei den Versen von Elisa Biaginis MANDELN ATMEN – Respiro di mandorla in erster Linie der Assoziationsreichtum in den dichterischen Bildern an, speziell der Blick auf Körperteile und Dinge aus der Natur im Spannungsfeld mit den erwähnten Referenzen zu Celan und Mandelstam. Zudem schätzt die Komponistin den phonetischen Reichtum und die klangliche Energie der Wörter. Bei ihren vielen Gesprächen fanden die Komponistin und die Dichterin heraus, dass ihnen beiden die Klangqualität der Wörter sehr wichtig ist. Marta Gentilucci identifiziert in der Lyrik von Elisa Biagini einzelne Wörter als Energiepunkte in Textfeldern. Daraus hört die Komponistin Musik heraus. Welche Stellen in dem umfangreichen Gedicht Marta Gentilucci angesprochen haben, zeigt das ausgewählte Textmaterial, das sie für Auf die Lider herangezogen hat: »AUF DIE LIDER / un fiammifero usato / […] la pausa dell’orologio scarico, / […] le orecchie / confuse come api / ZU VIEL GESAGTES /questo tuo sbadigliare / è rumoroso alle orecchie / dei morti / MIT DEM MUND, / […] il respiro inciampa, / […] vene strette / come cinture« (»… ein abgebranntes Streichholz / die Pause der abgelaufenen Uhr / die wie Bienen verwirrten Ohren / …. dieses dein Gähnen ist laut für die Ohren der Toten / … der Atem stolpert / verengte Venen wie Gürtel«).
Die Singstimme in AUF DIE LIDER ist für Koloratursopran geschrieben. Die Textverteilung im Gesangspart bewegt sich jenseits traditioneller Gedichtvertonung, denn die Verse werden nicht mit Blick auf ihre Semantik eingesetzt, sondern in ihrer phonetischen Qualität als Klangmaterial. Dies geschieht auch ungeachtet der Morphologie der Wörter: Gentilucci sprengt deshalb teils auch die Grenzen der Wörter als Sinnzusammenhänge und gestaltet innerhalb der einzelnen Gedichtfragmente Ligaturen zwischen den Einheiten. So verschmilzt sie beispielsweise an der Textstelle »un fiammifero« das »n« des Artikels »un« mit dem Anfangsbuchstaben von »fiammifero« zum Phonem „nf“. Mitunter ergeben sich durch diese eigenwillige Ausarbeitung sogar – wie zufällig – neue Wortbedeutungen. So entsteht beispielsweise aufgrund der drängenden Wiederholung der beiden ersten Silben »ore« des Substantivs »orechie« (»Ohren«) das Wort »ore« (»Stunden«). An anderen Stellen wiederum werden Wörter dagegen konventionell melismatisch oder syllabisch musikalisch eingesetzt. In Auf die Lider versucht Marta Gentilucci der klanglichen Energie der Wörter nachzuspüren und macht sie im Vokalpart sinnlich erfahrbar. Zu diesem Zweck sind sehr differenzierte Vokaltechniken und Artikulationsweisen vorgeschrieben, von Anleihen an Belcanto bis zu Atemgeräuschen, Gesang bei unterschiedlich geöffnetem und geschlossenem Mund, mikrotonale Bewegungen, Staccato-Figuren, geräuschhafte Artikulationen, improvisatorische Passagen sowie Diphtonge, also die Verbindung zweier Vokale, auch wenn sie im gesprochenen Wort gar nicht existieren.
Der Schlagzeugeinsatz in Auf die Lider sieht mit Ausnahme des Fellinstruments Rahmentrommel ausschließlich Metallophone vor: neun Crotales, kleine Scheibenglocken, die von außen angeschlagen werden, zudem neun Metallplatten, die im Gegensatz zu den Crotales keine bestimmte Tonhöhe haben. Der Zusammenklang dieser beiden Instrumentalfarben ergibt reizvolle Reibungen. Außerdem gehören zur Besetzung zwei Thai-Gongs und ein Becken. Diese Schlagzeugaufstellung hat vor allem ein Ziel, sie ist konsequent auf die Einsätze im Vokalpart ausgerichtet. Der Schlagzeugeinsatz als in irgendeiner Weise gestaltete eigenständige zweite Schicht, ist dabei nicht beabsichtigt. Im Gegenteil: Der Einsatz der Live-Elektronik verfolgt den Zweck, die Vokal- und Schlagzeugklänge noch in stärkerem Maße zu verschmelzen. Das Spektrum der Obertöne wird nämlich mit der Live-Elektronik gewissermaßen mikroskopiert und so hörbar gemacht, mit Delay werden mikro-polyphone Entwicklungen erzeugt. »Die Elektronik hat hier oft die Funktion, bestimmte Anteile des Klangs größer zu machen, gleichzeitig ist sie aber auch das dritte Instrument«, hat Marta Gentilucci 2021 im Interview vor der Freiburger Uraufführung ihres Stücks erklärt. In diesem Spannungsfeld zwischen Ausforschung der Singstimme und vielschichtigem Zusammenwirken zwischen der vokalen Schicht, des Schlagzeugs und den live-elektronisch erzeugten Klängen bewegt sich die Musik in Auf die Lider. Eine Vorfassung des Stücks mit zweikanaligem Zuspiel wurde 2016 beim Heidelberger Frühling uraufgeführt. Aber erst die im SWR Experimentalstudio in Freiburg entwickelte Fassung mit Live-Elektronik wurde der Klangimagination von Marta Gentilucci voll und ganz gerecht.
Eckhard Weber
(Überarbeitete Version eines Originalbeitrags zur Uraufführung am 18. November 2021 im Rahmen der Jubiläumskonzerte aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des SWR Experimentalstudios in Freiburg)