Marko Nikodijević: abgesang

Der Entstehungsprozess meines Stücks abgesang ist lang. Er beginnt mit einem Gedicht von Molcer Mátyás, einem ungarischen Künstler aus meiner Heimatstadt Subotica. Molcer Mátyás schrieb Gedichte, Dramen, er zeichnete, malte, komponierte, übersetzte Lyrik und spielte Klavier. In meinem Leben spielt Molcer eine prägende Rolle: Er gab mir Klavierunterricht in Subotica und war der erste Lehrer, der meine Interessen aufmerksam verfolgte und unterstützte. Statt elenden technischen Übungen, dem Wiederholen von Skalen und anderen Quälereien, mit denen man im Klavierunterricht oft konfrontiert wird, eröffnete Molcer mir die Zwölftontechnik, zeigte mir Clusterkompositionen, aleatorische Stücke, Improvisation, grafische Notation und so fort. Welch ein Glück, in einer verschlafenen serbischen Provinz einen solchen Lehrer gefunden zu haben!

Molcer Mátyás’ Gedicht Blitzende Ewigkeit stammt aus genau dieser Zeit, in der er mein Lehrer war. Es ist symmetrisch aufgebaut. In haikuhafter Sparsamkeit beschreibt es eine herbstliche Friedhofslandschaft. Es ist das Jahr 1995 und in meiner untergegangenen Heimat Jugoslawien ist Bürgerkrieg. 

Manchmal schwirren Ideen jahrzehntelang in meinem Kopf herum, bevor sie ihre endgültige Form als Komposition annehmen. Eine dieser Ideen erwuchs aus Molcers Gedicht. Ich kann mich kaum daran erinnern, wann ich die ersten Skizzen zu dem Stück entwarf, aber sicherlich ist seither mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Aus meiner ursprünglichen Idee eines Klavierliedes wurde nun ein fast neunzehnminütiges Lied für Sopran und Orchester

gelb wird das Gras
auf zeichenlosen
Gräbern
wenn sie dann wieder
zusammen pflügen
die Knochen
fangen sie neu an

weil schau immer
fangen sie neu an
die Knochen
zusammen zu pflügen
auf Gräbern
zeichenlos
gelb wird das Gras

Molcer Mátyás: Blitzende Ewigkeit