Vielleicht wäre es noch nicht einmal so abwegig, den Komponisten Mark Andre als die Hildegard Bingen des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen. Die berühmte Benediktinerin aus dem 12. Jahrhundert schuf ihre Musik als Widerhall himmlischer Ordnungen, die ihr in Visionen erkennbar wurden. Heute erforscht der gläubige Protestant Mark Andre für seine filigranen, zarten, subtil ausgehörten, innerlich glühenden Klangstrukturen die Zwischenbereiche: das, was sich vordergründig nicht fixieren lässt, die Übergänge zwischen dem fest Umrissenen, das, was sich zwischen den Rändern verbirgt und an den Bruchkanten. Dies aus dem Wissen und der weisen Akzeptanz heraus, dass Instabilität und Ungewissheit untrennbar mit dem Sein verbunden sind. In seiner Musik zeigt sich Mark Andre als sensibler Klangforscher, geleitet von der spirituellen Dimension im kreativen Prozess.
Längst konnte der Komponist seine intensive Erforschung der Zwischenräume auch in den Bereich der Elektronik ausdehnen, so 2006 in …hoc… für Violoncello und Elektronik. Das Werk ist in enger Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio entstanden. In …hoc… hat Mark Andre erstmals ein technisches Verfahren angewandt, das die Grenzen zwischen analog auf dem Cello erzeugten Tönen und elektronischem Klang in den kleinsten Bestandteilen ausleuchtet. Dieses Verfahren, Convolution oder »Faltung« genannt, erlaubt es, dass klangliche Impulse live-elektronisch mit Ausklängen versehen werden, die nicht synthetisch erzeugt wurden, sondern solche sind, die von akustischen Instrumenten in realen Räumen erzeugt werden. Die Klangimpulse des Cellos können auf diese Weise live-elektronisch in unterschiedliche Klangräume projiziert werden: das kann etwa ein Ausklang in einem riesigen Saal sein, in einer kleinen Kammer, in einem Kirchenraum oder auch etwa im Inneren eines Klavierkorpus. Das Verfahren der Faltung erlaubt somit praktisch unendliche Möglichkeiten, elektronische und akustische Klänge in ihren kleinsten Bestandteilen zu verbinden, das ideale Handwerkszeug für Mark André mit seinem sensiblen Gespür für die feinen Übergänge und Zwischenräume. In einem Kommentar zu … hoc …hat Mark Andre geschrieben: »Die Faltung repräsentiert klanglich, räumlich, morphologisch eine Art (Zwischen)Stand und Raumwechsel. Harmonische, unharmonische und geräuschhafte Klänge werden in Impulsen und Antworten ineinander verschränkt. Die Faltungen lassen sich aber auch auf einer existentiellen Ebene begreifen. Es geht um den Wechsel, den Abschied, den Anfang und das Ende von Klangtexturen, Klangfamilien und inneren Klangräumen.«
In … hoc … werden diese ineinander verschränkten Momente des Dazwischen wahrnehmbar: jene schemenhaften Bereiche der Obertöne, die Faserungen zarter Pizzicati oder sachter Bogenschläge, die reichhaltige Klangwelt, wenn der Bogen auf den Saiten wischt, wenn mit schnellem oder langsamem Bogenstrich gespielt wird, mit leichtem oder starkem Bogendruck die Saiten berührt werden. Insofern ist … hoc … eine tiefe Durchdringung des Celloklangs. Dies führt in der zweiten Hälfte des Stücks auch zu flächigen Ausprägungen, mit glatten und gekörnten Texturen. Das klangliche Panorama wird geweitet. Was dem Ohr sonst verborgen bleibt, wird hier zutage gefördert. Eine Musik, die tatsächlich die Wahrnehmung schärft, die Konzentration fokussiert, den Blick klärt für das Wesentliche. In einer Welt medialer Dauerbefeuerungen und sich in hysterischer Rasanz abwechselnder Spektakel geradezu eine Medizin.
© Eckhard Weber 2021