Das Gewicht eines Gedankens, Reflexionen für Viola nennt Marco Stroppa seinen (noch) fünfteiligen Zyklus. Desjardins weiß, dass Stroppa kurzfristig neue Fassungen oder auch einen längst angekündigten sechsten Teil senden kann. »Manchmal bekomme ich das einen Tag vor einem Konzert.« Stroppa sieht das Leben als Prozess, »als ständigen Widerstand. Aber mein Leben wird durch die Musik kanalisiert, und deshalb sind diese Gedanken der verborgene Treibstoff meiner Inspiration«, so Stroppa, der neben Komposition auch kognitive Psychologie, Informatik und Künstliche Intelligenz studiert hat. Das Werk besteht aus fünf Aphorismen, die unterschiedliche Themen umkreisen. Die Titel lauten: Famelico (ausgehungert), Amoroso, sognante (Der Liebhaber/Der Träumer), Elettrizzato (elektrisiert), Rivoltato (gedreht) und Inerme (hilflos). Fünf Gedanken sind hier angedeutet, deren Schwere musikalisch ›gewogen‹ wird. Zwei Arten von Reflexion spielen dabei eine Rolle: Die Lichtbrechungen auf dem Instrumentenlack während des Spiels und wie sich der Bratscher in der Musik widerspiegele. Immer steht dabei die Frage im Zentrum: Wie ›schwer‹ kann ein Gedanke sein? Stroppa geht von der gleichnamigen Schrift des Philosophen Jean-Luc Nancy aus, der dahingehend antwortet, dass die Schwere eines Gedankens von der Erfahrung des Einzelnen abhänge – und so überträgt Stroppa dem Publikum die Aufgabe, jedem Gedanken entsprechend der eigenen Sensibilität ein Gewicht zu verleihen. Die meisten Teile hat Stroppa als Viola-Intermezzi für ein Chorwerk komponiert, diese einzeln gestellt und ergänzt und so ein eigenständiges Werk ›komponiert‹. Damit tragen die Teile Erinnerungen an die größeren Werke in sich. Der Interpret hat freie Hand, die Reihenfolge der Teile festzulegen oder auch nur Einzelstücke auszuwählen. Famelico hat etwas nervös Schreiendes, fern an eine Paganini-Caprice erinnernd, Amorose, sognante steigert einen Ton vom Piano ins Forte, indem sich die Klänge verdoppeln und traumwandlerisch in hohe Pizzicato- Spiele verwickeln. Elettrizzato startet mit aggressiven Doppelgriffen, Rivaltato spielt mit Flageolett-Klängen, Inerme dagegen beginnt mit fahl geschichteten Farbtönen.
Cornelia de Reese