Norwegen liegt am äußersten Rand Europas. Ein riesiges Land, denkbar dünn besiedelt, dessen malerische Landschaft von Gletschern und Küstenfjorden geprägt ist. Da scheint es fast logisch, dass hier eine Form der romantischen Musik mit volksliedhaftem Einschlag wie etwa die von Edvard Grieg entstehen konnte. Oder etwa nicht?
Auf derartige Leuchttürme der nordischen Musikgeschichte und typische Klischeevorstellungen von skandinavischem Nationalkitsch wird Norwegen gerne reduziert. Dabei hat die Musikszene des Landes – vor allem die gegenwärtige – weitaus mehr zu bieten als Mythen und Melancholie. Norwegens Festivals für zeitgenössische Musik sind vielfarbig, verspielt und im besten Sinne des Wortes widersprüchlich in ihrer Genreauswahl. Komposition, Improvisation, Jazz, Pop und Folklore werden hier oft wie ungezähmt aufeinander losgelassen. Entsprechend universell interessiert und ausgebildet sind auch viele Musiker des Landes. So etwa die Mitglieder des 1999 in Oslo gegründeten Trios POING. Sowohl im Interpretieren von neuer und alter notierter Musik als auch in der freien Improvisation sind sie zuhause.
Genau dieses Potenzial schöpft der 1973 geborene Komponist Eivind Buene in seinem Stück Seven types of ambiguity aus. Das Trio für Saxofon, Akkordeon und Kontrabass entstand für die Musiker von POING und fokussiert Schnittmengen ebenso wie Reibungen zwischen zeitgenössischer komponierter Musik und den klassischen Charakteristika einer Jazz-Combo. »Das hat vor allem«, so Buene, »mit der Zeit zu tun, in der ich das Stück schrieb: Im Oslo der späten 1990er-Jahre gab es starke Überlappungen zwischen neuer Musik und der Impro-Szene. Und meine Musik war enorm beeinflusst von Projekten, die ich mit Improvisationsmusikern realisiert hatte. Einige meiner engsten Freunde und Kollegen waren schon damals die Mitglieder von POING, die alle auch ausgezeichnete Improvisatoren sind.« Dennoch ist Seven types of ambiguity ein durchgehend auskomponiertes Stück. Es kann als eine Art »komponierte Reflexion« von improvisierter Musik verstanden werden. Und auch die im Titel benannte Ambiguität lässt sich in der Musik wiederfinden: Vor allem Saxofon und Akkordeon bilden streckenweise extreme klangfarbliche Kontraste aus. Akustische Welten von Jazz und Folklore bis hin zu klassischer und neuer Musik treffen hier aufeinander, wobei sich jedes Instrument zwischen seinen typischen und aus anderen musikalischen Idiomen ›ausgeliehenen‹ klanglichen Gesten hin und herbewegt. »Die Musiker von POING«, sagt Eivind Buene, »sind alle drei sehr verschiedene Persönlichkeiten. Das bietet einen fruchtbaren Boden für produktive künstlerische Widersprüche, was sicherlich auch mit unserer Heimat zu tun hat. Zwar ist Oslo eine seltsame kleine Stadt mit einer ölbesessenen ›Nouveau Richness‹. Aber es gibt auch eine lebendige Szene zeitgenössischer Musik. Und die Grenzen zwischen den Genres sind hier extrem durchlässig.«
Teil dieser aufgeschlossenen Musikszene ist auch die 1973 geborene Sängerin und Komponistin Maja Ratkje, die seit über zwanzig Jahren regelmäßig mit POING zusammenarbeitet. Ihr Stück ØX für Altsaxofon und Stereoplayback ist eine Komposition der Extreme: Zaghafte Zurückhaltung und Stille begegnen maximaler Geräuschhaftigkeit. Klänge in klirrend hohen Registern treffen auf Drones, tiefe Differenztöne und dumpfes Dröhnen. Stilistisch lässt sich das Stück durchaus im Bereich der Noise Music verorten. »Meine ursprüngliche Idee war es«, sagt Ratkje, »mit ØX eine Musik der Einfachheit zu kultivieren: harte Kanten, klare Linien, Lärm und Stille. Das Ø steht für die mathematische ›leere Menge‹ und das X für einen unbestimmten Faktor X, der zwischen Rauschen und sinustonartigen Saxofonklängen oszilliert. Während des Kompositionsprozesses allerdings kam ich nicht umhin, auch von dem lyrischen Potenzial der vorab erstellten Demo-Aufnahmen des Saxofonisten Rolf-Erik Nystrøm fasziniert zu sein. Dieses lyrische Element floss wie automatisch meine Arbeit ein. Es verleiht dem Stück eine dreidimensonale Qualität, bei der das Saxofon – der menschliche Faktor? – gewissermaßen ØX zum Opfer fällt.«
In einem weiteren Stück von Maja Ratkje tritt die Komponistin selbst als Performerin auf: Passing Images (2003) entstand ursprünglich als Solokomposition für den Akkordeonisten Frode Haltli, der das Stück seinerseits für Quartett bearbeitet hat – hier für Akkordeon, Saxofon, Kontrabass und Stimme. Ratkje hatte das Stück auf Basis ihrer Erinnerung an ein von Haltli realisiertes Arrangement einer norwegischen Volksweise geschrieben. Das klingende Ergebnis dieses mehrfachen Transformationsprozesses beschreibt die Komponistin als »fernes Echo von etwas, das sich über die Zeit hinweg entwickelt und verändert hat.« Über weite Strecken spielen die Musiker ihre Instrumente nicht auf traditionelle Weise. Ihre Ausdrucksqualitäten verlagern sich auf ein anderes Klang- und Geräuschspektrum: Zu hören sind Luftgeräusche, introvertierte, kaum vernehmbare tiefe Harmonien und lange Phasen der Stille. Dazwischen erscheint Ratkjes Stimme mit an Lautpoesie erinnernden Mundgeräuschen ebenso wie mit zarten langen Tönen.
Ähnlich wie in Ratkjes Passing Images schimmern auch in Bjørn Stenvaags Bark II entfernte volksliedhafte Anklänge durch. Beginnt das Stück zunächst mit filigranen, liedhaft entrückten Klängen, brechen irgendwann schroffe, hektisch stotternde Pulse das Klanggeschehen auf. Sie entfalten eine freejazzartige Textur, um sich schließlich zu einem energisch akzentuierten, homophonen Satz zusammenzufinden. Diesen Entwicklungen zu folgen, gleicht dem Rezipieren eines als ›Stream of consciousness‹ geschriebenen Texts. Denn noch bevor sich ein bestimmter Klangcharakter vollständig etabliert hat, wird das akustische Setting schon wieder in einen anderen Zustand überführt: Stellenweise erzeugen die Musiker Sounds mit ihren Instrumenten, die an elektronische Musik erinnern. Im nächsten Moment heult das Saxofon in einem tierähnlichen Gestus auf. Dann wieder mündet das Geschehen in kantable, liedhafte Ausdruckswelten. Nicht zuletzt erfasst und komprimiert Bark II das breite Spektrum an musikalischen Idiomen, die die Musiker von POING selbstverständlich mitbringen.
Nicht nur stilistisch, auch im Hinblick auf programmatische Ideen sind POING breit aufgestellt. Gemeinsam mit Maja Ratkje haben die Musiker einige Programme mit politischem Einschlag entwickelt. Darin werden etwa Stücke des vergangenen Jahrhunderts, die den vielschichtigen Einfluss des Kapitalismus auf die Gesellschaft verhandeln, neu interpretiert; ebenso revolutionäres Liedgut, das den Kampf der Menschen um Freiheit zu verschiedenen Zeiten reflektiert. Eines der Stücke aus ihrem Programm ›Wach auf!‹ ist eine Bearbeitung von Kurt Weills Ballade vom ertrunkenen Mädchen für Stimme, Saxofon, Akkordeon und Kontrabass. Das Stück ist ursprünglich Teil der kleinen Kantate Berliner Requiem, entstanden 1928 im Auftrag des Frankfurter Senders zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs. Die ebenso eindringliche wie schmucklose Ballade vom ertrunkenen Mädchen, deren Text 1919 von Bertolt Brecht verfasst wurde, kann als eine Art Elegie für Rosa Luxemburg gelesen werden. Erst viereinhalb Monate nach ihrer Ermordung während der Niederschlagung des Spartakusaufstands war die Leiche aus dem Berliner Landwehrkanal geborgen worden. Die nüchterne, fast unbarmherzige Beschreibung ihres verwesenden Körpers im Wasser lässt die Tragik des Inhalts umso gravierender hervortreten. Entsprechend nachdenklich und dennoch auf keine eindeutige Stimmung reduzierbar klingt die Interpretation des Liedes von POING und Maja Ratkje.
Eine klangliche wie formale Mehrdeutigkeit kennzeichnet auch Ratkjes Komposition Rondo – Bastard – Overture – Explosion für Akkordeon, Altsaxofon und Kontrabass mit drei Diktaphonen. Wie Wellen, die sich aufbauschen, brechen und wieder in sich zusammenfallen, wandern laute Gesten von einem zum anderen Instrument, wechseln sich zurückhaltende mit aufbrausenden Passagen ab. »Der Kern der Komposition«, so Ratkje, »ist ein Rondo, bei dem bestimmte Elemente sich bei jedem Wiederkehren weiterentwickeln. Zusätzlich verwenden alle drei Musiker Diktiergeräte, auf denen Aufnahmen ihrer Probenarbeit gespeichert sind.« Durch diese Klänge wird das Stück gewissermaßen von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt. Gleichzeitig mündet es am Schluss in eine offene Zukunftsperspektive, da die Diktiergeräte weiterlaufen, während die Musiker schon die Bühne verlassen.
Aus dem Programm ›Kapital & Moral‹, in dem Maja Ratke und POING sich Aspekten der Arbeiterbewegung und des Sozialismus widmen, stammt eine Bearbeitung von John Lennons Working Class Hero – eines Songs, der selbst fünfzig Jahre nach seiner Entstehung kein bisschen an inhaltlicher Relevanz eingebüßt hat: Soziale Ungleichheit, die Angst vor gesellschaftlichen Zwängen sowie die kapitalistische Verführung sind Themen, die uns auch (oder besonders) heute spürbar heimsuchen. In ihrer Bearbeitung für Stimme, Saxofon, Akkordeon und Kontrabass zoomen die Musiker an die Akkordfolge des Songs heran und modifizieren sie in eine Zeitlupenversion, bei der Flächenklänge regelmäßig an und abschwellen. Darüber wandert Ratkjes Singstimme – mal in ätherisch hohen Registern, mal mit rauchig-tiefem Timbre. Irgendwann scheint sich das instrumentale Klanggeschehen zu verselbstständigen. Es entwickelt eine eigene, sich mit Dringlichkeit und Emphase anreichernde Dynamik.
Leonie Reineke