In über 40 Jahren komponierte Luciano Berio einen Zyklus von vierzehn Solostücken, von Sequenza I für Flöte (1958) bis zu Sequenza XIV für Violoncello, entstanden 2002, ein Jahr vor seinem Tod, fertiggestellt. »Von den verschiedenen Merkmalen, die den Sequenze gemeinsam sind, ist die Virtuosität das hervorstechende und offensichtlichste. (…)«, hat der Komponist geäußert, aber auch unterstrichen, dass es ihm nicht um zirkusreife musikalische Akrobatik, sondern um eine zeitgemäße Virtuosität der »Sensibilität und Intelligenz« gehe.
Im Fall der Sequenza VII für Oboe hat Berio auf die Erfahrung eines der führenden zeitgenössischen Oboisten setzen können: Das Werk ist Heinz Holliger gewidmet, der es im Entstehungsjahr 1969 in Basel uraufgeführt hat. Berio hatte Holliger im Vorfeld gebeten, ihm die spieltechnischen Möglichkeiten auf dem Instrument aufzulisten. Davon macht Berio ausgiebig Gebrauch: Das Stück enthält eine Fülle von Trillern, die auch Mikrointervalle einbeziehen, Doppeltriller, Glissandi, Flageoletts, geräuschhafte Artikulationstechniken wie Flatterzunge, Sforzati und Überblaseffekte sowie Multiphonics, also akkordische Mehrklänge. Damit ist Sequenza VII ein Stück, das spieltechnisch auf der Höhe seiner Zeit war und die interpretatorischen Grenzen des Instruments austestet.
Berio reizte es zudem, in der Oboe, die traditionell für einstimmige Melodielinien ausgerichtet ist, durch eine gezielte Schreibweise den Eindruck von Mehrstimmigkeit zu erzielen. »Das Ideal waren die ›polyphonen‹ Melodien von Bach«, sagte Berio einmal mit Blick auf die Solo-Partiten für Violoncello, Violine und Flöte des berühmten Vorläufers. Dies Polyphonie in der Einstimmigkeit gelingt durch Kontraste in Registern und Dynamik, aber auch durch rasante Wechsel und Überlagerungen unterschiedlicher musikalischer Charaktere im Stück, grundsätzlich ausgehend von einer harmonischen Progression, also vertikal gedacht. Das Tonmaterial des Stücks leitet sich von einer Reihe ab, die vom eingestrichenen h ausgeht, eine einkomponierte Hommage an den Widmungsträger Heinz Holliger.
Dieses h ist auch – trotz der Reihentechnik – gewissermaßen der Grundton des gesamten Stücks und eröffnet eine weitere Dimension von Mehrstimmigkeit: Von Anfang an soll das gesamte Stück über mittels eines Tongenerators oder einer Einspielung das h als Liegeton erklingen: »Die Intensität muss äußerst gering sein, mit ganz leichten Schwankungen. Das h muss sich wie ein schwaches Echo der Solo-Oboe anhören«, heißt es in der Partitur.
Gegen Ende des Stücks legt Berio Verweise auf Wagners Tristan und Isolde aus, konkret auf die wehmütige Hirtenmelodie zu Beginn des dritten Akts, gespielt vom Solo-Englischhorn, das letztlich eine tiefer gestimmte Oboe ist, eine Oboe in Alt-Lage. »Für mich ist die Sequenze VII verbunden mit der Erinnerung an das Englischhorn im dritten Akt des Tristan, das mir mein Vater auf dem Klavier vorspielte. Tatsächlich sind in Sequenza VII Überreste dieser schönen Melodie«, hat Berio dazu einmal bemerkt. Solch eine Auseinandersetzung mit der Aufführungstradition des Instruments ist nicht nur typisch für die Sequenza-Werkgruppe, sondern für Berios Komponieren allgemein.
Eckhard Weber