In Marcel Prousts Opus magnum Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist Albertine Simonet die große Liebe des Ich-Erzählers Marcel. Er heiratet sie – und schließt sie damit praktisch weg. Eine geradezu obsessive Eifersucht und die erdrückende Inbesitznahme des geliebten Menschen – zwei der zentralen Themen des monumentalen Romans von Proust – werden in der Beziehung von Albertine und Marcel behandelt. Kurz nachdem Albertine aus der Enge mit Marcel ausgebrochen ist, stirbt sie, anscheinend bei einem Reitunfall, doch es bleibt offen, ob es nicht doch Selbstmord gewesen ist.
Lucia Ronchetti hat Albertine zur Protagonistin ihres gleichnamigen Monodrams für
Stimme solo und flüsterndes Publikum gemacht. Es wurde im Rahmen des Festivals MaerzMusik 2008 in Berlin mit der Sopranistin Anna Prohaska in der Titelpartie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz uraufgeführt. „Albertine ist der Versuch, mit einer Solostimme eine Figur, ihre dramatische Dimension und ihre individuelle Geschichte zu fassen. Wie in den madrigale rappresentativo der italienischen Renaissance ist die Dramaturgie einfach aufgebaut aus der Übereinstimmung zwischen Stimme und Figur. (…) Prousts Versuch, hochdifferenzierte und unterschwellige Blicke und Gesten in Worte zu übersetzen, findet in der Partitur eine Parallele in dem Versuch, die unbewussten Klänge der Kommunikation zu transkribieren und zu kontrollieren“, haben Lucia Ronchetti und die Dramaturgin Laura Bermann in einem Kommentar zu Albertine damals im Vorfeld der Uraufführung dargelegt. Die Komposition lässt ein fiktives Gespräch zwischen Marcel und Albertine erklingen, nachdem diese ihn schon verlassen hat. Bei der Version als szenisches Monodram stehen in der Sopranstimme Fragmente des aus dem französischen Original
Albertine Disparue (Die Flüchtige), dem sechsten Band aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, während der geflüsterte Text der Männer im Publikum in der jeweiligen Landessprache des Aufführungsorts vorgetragen werden soll.
Im Wunsch, ihre Komposition auch für eine Konzertsituation aufführbar zu machen, wandte sich Lucia Ronchetti an den Countertenor Daniel Gloger. Er hat eine Version für einen einzigen Sänger erstellt, die er 2013 beim Arcana Festival in St. Gallen/Gesäuse in der Steiermark als Uraufführung präsentierte. „Mit einem einzigen Sänger sind Gesang und Sprechen ja nur nacheinander möglich“, erläutert Daniel Gloger im Interview für Ultraschall Berlin. „Ich habe versucht, dies so zu verschränken, dass der Eindruck eines Bewusstseinsstroms entsteht. Albertine bricht sozusagen aus dem gesprochenen Text heraus und materialisiert sich immer mehr in der Countertenorstimme, aber das Sprechen geht ebenfalls weiter. Und – wie immer bei Lucia Ronchetti – wird das Sprechen vom Gesang immer stärker affiziert.“ Wenn das gesamte Werk in der Stimme eines Mannes liegt, auch die Teile, die ursprünglich Albertine zugedacht wurden, ist die Personenzuordnung nicht mehr eindeutig verteilt. Es könnte sich nun möglicherweise um einen inneren Dialog handeln. Gleichzeitig eröffnet diese Gender-Ambivalenz, der Umstand, dass ein Mann den Part der Albertine übernimmt, zudem weitere Lesarten. Schließlich ist heute bekannt, dass Prousts Chauffeur Alfred Agostinelli, in den der Schriftsteller verliebt war, eines der realen Vorbilder für die Romanfigur Albertine war. Agostinelli kündigte seine Stelle bei Proust 1914 und kam bald bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
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