Die Komponistin Liza Lim, geboren im australischen Perth als Tochter chinesischer Einwanderer, aufgewachsen in Brunei und Australien, hält ihre Sinne weit offen für unterschiedliche spirituelle Traditionen. Dies ist an vielen ihrer Werke abzulesen: Ihr Orchesterwerk The Guest ist inspiriert von Sufi-Mystik, genau wie ihre Oper Tongue of the Invisible. In der Oper Yué Ling Jié (Moon Spirit Feasting) hat die Komponistin schamanistische Rituale aus der chinesischen Tradition verarbeitet. Es überrascht nicht, dass ihr Schaffen schon einmal als „kompositorische Ethnographie“ bezeichnet wurde.
Seit gut zehn Jahren hat die Komponistin ein großes Interesse für die Ritualkultur und Kunst der australischen Ureinwohner entwickelt. 2006 kuratierte sie die Konzertreihe „As Night Softly Falls“ beim Adelaide Bank Festival of the Arts. Damals machte sie die Bekanntschaft mit Frauen der Ethnie der Yolngu, die in Arnhem Land, im Nordosten Australiens, beheimatet sind. Aufgrund eines plötzlichen Trauerfalls wurde Lim zu einer Begräbniszeremonie der Yolngu eingeladen. Bei diesem Ritual rieb sich Lim wie alle Teilnehmer der Zeremonie mit ockerfarbener Erde ein, die mit Glimmer versetzt war, und dadurch eine schillernde Farbwirkung erzielte. Genau dieser Effekt ist ein wichtiger Aspekt in der Kunst der Yolngu, die eng mit der Kosmologie und der Mythologie dieser Kultur zusammenhängt: Das Phänomen des bir’yun, im Englischen shimmer, was im Deutschen „Schillern“, „Changieren“ „Irisieren“ oder „Flirren“ entspricht, wird mit unterschiedlichen Techniken des Farbauftrags erzielt, etwa durch feine Schraffuren oder Farbtupfer.
„Schillern, als Wirkung eines flackernden Lichts oder einer pulsierenden akustischen Qualität, hat einen absolut zentralen Stellenwert in den australischen Aborgine-Kulturen, als Hinweis auf die Präsenz einer spirituellen Realität. Die ästhetische Qualität des Schillerns (…) wird assoziiert mit der gestalteten Verschiebung von Bedeutungen und einer fühlbaren Verbindung zur Ahnenzeit“, hat Lim einmal erläutert. „Qualitäten des ›Schillerns‹, der ›Helligkeit‹, ›Irisierens‹ sind Faktoren, die sowohl die Präsenz einer zeitlosen spirituellen Realität verhüllen als auch darauf hinweisen“, betont die Komponistin.
Die Idee der Vieldeutigkeit, die als Schwelle zwischen verschiedenen Welten verstanden wird, hat Lim versucht in ihrer eigenen Musiksprache klanglich umzusetzen. Beispiele dafür sind das Solostück Shimmer (2005) für Oboe, die Vokalwerke Shimmer Songs (2006) und Songs Found in Dream (2005), das Solostück Invisibility (2009) für Violoncello und das groß angelegte Orchesterwerk Pearl, Ochre, Hair String (2009). Dieser Titel bezieht sich konkret auf ein Ritualobjekt im Kontext einer Initationszeremonie der Yolngu: Dafür werden in eine Riji, eine Perlmuschel, Linienstrukturen eingeritzt, und mit der rötlich getönten Erdfarbe Ocker überzogen, was einen schillernden Effekt ergibt. Durch ein Loch am oberen Rand der Perlmuschel wird zudem eine menschliche Haarsträhne als Schlaufe durchgezogen. Diese Verbindung von Elementen der Fauna (Pearl), der Erde (Ochre) und des Menschen (Hair String) verweist auf ein wesentliches Prinzip in der Weltsicht aller australischen Ureinwohner, die den Menschen im engen Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachten.
Um das erwähnte Schillern in ihrer eigenen Musiksprache zu erzeugen, bedient sich Liza Lim unterschiedlicher Mittel. Neben unterschiedlichen Rhythmusinstrumenten, die durch Reiben körnige Klangtexturen erzeugen, wie dem Güiro und dem Samba-Instrument Raca-Raca, arbeitet sie auch mit Präparierungen für die Streichinstrumente. Bei Pearl, Ochre, Hair String ist dies gleich zu Anfang zu beobachten: Das Solocello wird mit einem Bogen gespielt, dessen Bogenhaar um den Stab gewickelt wurde. Die unebene Streichfläche erzeugt einen warmen und doch obertonreichen Klang, der gleichzeitig Geräuschanteile hat und eine immense Tiefe und somit klanglich jede Vieldeutigkeit erzielt, die Lim in der Ritualkultur der Yolngu so fasziniert. Durch gezielte Instrumentation und Spieltechniken und auf struktureller Ebene durch den Einsatz repetierter, kontrastierender Melodiepartikel, unterschiedlicher Klangtexturen und Rhythmen, die bewusst auf Ambivalenz angelegt sind, wird die Vorstellung eines vieldeutigen Schillerns konsequent auf sämtliche Parameter des Orchestersatzes in Pearl, Ochre, Hair String übertragen.
Eckhard Weber