2021/22 war sie Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg, 2022 wurde sie zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste gewählt: Die Komponistin Liza Lim, geboren in Perth als Tochter chinesischer Einwanderer, aufgewachsen in Brunei und Australien. In vielen ihrer Werke beschäftigt sie sich mit spirituellen Traditionen. Dies reicht von Sufi-Mystik über schamanistische Praktiken Chinas bis zur Ritualkultur der Aborigines. Nicht zuletzt deshalb wurde die Musik Liza Lims mehrfach als »kompositorische Ethnographie« bezeichnet. Gleichzeitig beschäftigt sich die Komponistin in vielen ihrer Werke mit der Rolle der Frau, ebenfalls aus einer transkulturellen Perspektive betrachtet.
Geradezu paradigmatisch für die Verbindung von Genderthemen und Spiritualität ist das Orchesterwerk Mary/Transcendence after Trauma, das 2020 als Auftragswerk für die Konzertreihe musica viva des Bayerischen Rundfunks entstanden ist. Die Uraufführung war für Oktober 2020 in München geplant, fand jedoch bedingt durch die Folgen der Covid-19-Pandemie schließlich 2022 statt. Das Stück Mary/Transcendence after Trauma ist der Mittelteil des dreiteiligen Orchesterzyklus Annunciation Triptych (»Verkündigungstriptychon«) von Liza Lim, der als gemeinsame Auftragskomposition für BBC Radio 3, musica viva und WDR entstanden ist und als Gesamtzyklus im April 2022 in der Kölner Philharmonie mit dem WDR Sinfonieorchester und dessen Leiter Christian Mâcelaru zur Uraufführung gelangte.
Liza Lims Annunciation Triptych nimmt in drei Stücken berühmte Frauen aus verschiedenen Religionen in den Fokus: Der von 2019 bis 2022 komponierte Zyklus besteht aus den Stücken I. Sappho/Bioluminescence, II. Mary/Transcendence after Trauma und III. Fatimah/Flowers of Jubilation. Alle drei Stücke können nach dem Konzept von Liza Lim auch einzeln aufgeführt werden. Mit der Dichterin Sappho wird eine Frauenfigur aus der griechischen Antike in den Fokus genommen, mit Fatima, der Tochter des Religionsstifters Mohammed und seiner Frau Chadidscha, eine Persönlichkeit aus der Geschichte des Islam. Liza Lim spricht in diesem Zusammenhang von »Ikonen weiblicher Spiritualität«, jedes der drei Stücke »untersucht die Aspekte Enthüllung und Ritual als verbindende Fäden zwischen sehr unterschiedlichen kulturellen Welten«.
In Mary/Transcendence after Trauma wird eine Figur aus der Bibel beleuchtet: Maria, die »Gottesmutter«, die Mutter von Jesus Christus. Das Orchesterwerk setzt sich mit der biblischen Verkündigungsszene auseinander, wie sie im ersten Kapitel des Lukasevangeliums überliefert ist: Der Engel Gabriel sucht Maria, noch Jungfrau, auf und verkündet ihr, dass sie Jesus Christus gebären werde. Als sie zweifelt, weil sie bislang keinen Mann habe, entgegnet ihr der Engel: »Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.« Am Ende dieser Episode heißt es im Lukasevangelium: »Da sagte Maria: Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast. Danach verließ sie der Engel.«
In ihrer kompositorischen Auseinandersetzung mit dem biblischen Stoff bringt Liza Lim neue Gesichtspunkte aus einer weiblichen Warte und aus weiteren spirituellen Traditionen ein. Mit unverstelltem Blick, jenseits der jahrhundertelang patriarchal geprägten christlichen Traditionen ordnet Liza Lim die Geschehnisse der Verkündigung neu ein und findet auf diese Weise andere Aspekte in der alten Überlieferung. So wird von Liza Lim beispielsweise entgegen der von Männern geschriebenen Darstellung in der Bibel auch auf Aspekte der Körperlichkeit Marias hingewiesen, beispielsweise wie sie ihre Schwangerschaft erlebt. Das ergibt zweifellos erhellende und aufschlussreiche Einblicke – nicht nur in die Episode aus der Bibel. Mary/Transcendence after Trauma ist formal in mehrere Abschnitte unterteilt:
[1] Still Life with foetus and Angel
[2a] Audi, Pontus (Hear, O Sea)
[2b] Audi, Tellus (Hear, O Earth)
[2 c] Audi maris magni limbus (Hear, O great earth-girdle oft he ocean)
[3] Her wild consent
[4] Sidera super terram cadent (The Stars fall over the earth)
[5] Mary – Tree of Light
In einem Werkkommentar hat Liza Lim dazu erklärt: »Dieses Werk verhandelt verschiedene Aspekte ekstatischen Hörens und Sprechens. Zu Beginn wird alles aus der Perspektive Marias gehört: Sie hört den Herzschlag des Fötus und einen embryonalen Gesang aus der Tiefe ihres Körpers; sie spürt die Ankunft des Engels als einen überwältigenden Heiligenschein. In der Musik wird diese vielschichtige sensorische Erfahrung des Hörens auch in einem Zitat reflektiert, aus einem Gesang aus dem Conductus Audi Pontus aus dem Codex Las Huelgas, einer spanischen Notenhandschrift für Frauenstimmen aus dem 13. Jahrhundert, die im Zisterzienserinnenkloster Santa Maria la Real de Las Huelgas aufbewahrt wird. Der Text bezieht sich auf das Buch der Offenbarung (Kapitel 6, 12–13) mit seinen prophetischen Visionen der Apokalypse. Diese habe ich verbunden mit einem imaginierten ›Passionsspiel‹: Maria sieht in ihren Visionen Dornen, Asche und Tränen. Mit dem volltönenden lateinischen Text mit seiner Mahnung, die an alle Enden der Erde und des Meeres gerichtet ist (eine Botschaft zu ›hören‹ über den Weltuntergang mit ›Sternen, die auf die Erde fallen‹), werden der zweite und der vierte Teil dieses Orchesterwerks eingeleitet.«
Indem Liza Lim aus dem Codex La Huelgas zitiert, gelingt ihr ein Bezug zur historischen Bedeutung von Frauen: Das königliche Kloster La Huelgas in der Nähe von Burgos war ein wichtiges Zentrum mittelalterlicher Spiritualität und Musikpraxis, gerade geprägt von Frauen. Mit der von Liza Lim angesprochenen fiktiven Vision von Maria wird bereits der Kreuzestod von Jesus Christus heraufbeschworen. Gleichzeitig wird durch den mittelalterlichen Text der Vorlage aus Las Huelgas, der die Apokalypse andeutet, eine direkte Verbindung zu den bedrohlichen ökologischen Krisen unserer Tage hergestellt
Liza Lim hat zudem noch auf eine weitere Inspirationsquelle hingewiesen: Sie hat ausdrücklich betont, dass sie »gegen diese Melancholie«, die in ihren Szenarien mitschwingt, zusätzlich »einen helleren Referenzpunkt« für sich gefunden habe: Die Verkündigungsszene von Fra Angelico für das Altarbild der Chiesa del Gesù von Cortona, heute im Diözesanmuseum von Cortona aufbewahrt. Darin wird – gewissermaßen als frühe Graphic Novel – in vergoldeten Buchstaben ein Dialog zwischen dem Engel Gabriel und Maria wiedergegeben. Liza Lim bemerkt dazu: »Mich hat vor allem die menschliche Handlungskompetenz beeindruckt, die in der Zustimmung Marias zum Ausdruck kommt, angesichts einer schrecklichen Verkündigung und der gewaltigen Konfrontation mit einer kaum glaubhaften Botschaft über eine Inkarnation.« Weiter führt Liza Lim aus: »Nach dem Hören kommt das Sprechen«. In ihrer Musik lässt die Komponistin schließlich Maria »ihre eigene Wahrheit sprechen im Formteil mit dem Titel Her wild consent (›ihr ungestümer Zuspruch ‹) – im Orchester umgesetzt mit dem Einsatz der Großen Trommel, der vom Klavier und Horn beantwortet wird.« Indem Liza Lim mit musikalischen Mitteln Maria eine eigene Handlungsmacht, Zielstrebigkeit und Vehemenz bei ihrer Antwort verleiht, torpediert sie das Klischee der passiven Frau, die vor dem – männlich konnotierten – Engel als »Magd des Herrn« unterwürfig den Anweisungen Folge leistet.
Das Licht, das Liza Lim im Zusammenhang mit Fra Angelicos Verkündigungsdarstellung erwähnt, hat sie im Finale von Mary/Transcendence after Trauma einfließen lassen: im abschließenden Formteil Mary – Tree of Light. Hier spreche die Musik von »Umwandlung«, wie die Komponistin es nennt: »Jenseits der verloschenen Sterne ist Erleuchtung. Aus dem Trauma der Frau entsteht ein Vergeben, das so groß ist, dass es die Macht hat, die Fasern der Welt zu verschieben.« Insofern kann Mary/Transcendence after Trauma auch als leidenschaftlicher Aufruf zu einer neuen Weltordnung verstanden werden. Ein Appell, der angesichts der sich immer stärker »offenbarenden« vielfachen Bedrohungen des Lebensraums Erde hochaktuell, letzten Endes überlebenswichtig ist. Mary/Transcendence after Trauma sensibilisiert mit Mitteln der Kunst für drängende Anliegen unserer Zeit, indem Liza Lim virtuos die Kräfte des Orchesters einsetzt, immens aufgefächert, in vielfachen Klangschichten, sinnlich ansprechend, Zauber entfaltend, mystisch, suggestiv, dramatisch, auch überwältigend und verblüffend – und unaufhörlich die Neugier weckend.
Eckhard Weber