Das Ensemble Experimental hat im Juni 2019 das Stück The Truth Will Set You Free von Li-Ying Wu für Ensemble und Elektronik im oktagonalen Barockinnenraum der Frederiksberg-Kirche im gleichnamigen Stadtteil Frederiksberg in Kopenhagen zur Uraufführung gebracht. In Kopenhagen hat die aus Taiwan stammende Komponistin seit 2003 auch ihren Lebensmittelpunkt. Während der letzten Jahre haben Dynamiken und Probleme in der komplexen und vielschichtigen Kommunikation unserer Zeit immer wieder das Interesse von Li-Ying Wu auf sich gezogen: In ihrem 2017 entstandenen Stück Dissolved Voices für Akkordeon und Streichquartett ging es um die wichtigen Stimmen, die heute im lärmenden Schwall der Meldungen aller medialer Kanäle untergehen. In Small Talk – Small Talk, 2018 für Kammerorchester komponiert, waren es die massenhaft kursierenden nichtssagenden Botschaften, die Li-Ying Wu in den Fokus nahm. Und in The Truth Will Set You Free hat sie sich schließlich mit dem Phänomen der Fake News auseinandergesetzt.
The Truth Will Set You Free ist in gewisser Weise eine Konsequenz und auch eine Weiterführung von Small Talk – Small Talk. Einiges aus dem darin verarbeiteten musikalischen Material wollte Li-Ying Wu weiterhin eingehend erforschen. Zudem hatte sie die Absicht, ein neues Werk zu komponieren, das sich erneut mit Aspekten der Kommunikation auseinandersetzt, wie die Komponistin in einem Interview vor der Uraufführung von The Truth Will Set You Free erklärt hat. Der Titel des Werks ist der Bibel entlehnt, er stammt aus dem Johannes-Evangelium, 8, 32. Dort predigt Jesus: »Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger / und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.« Im erwähnten Interview hat Li-Ying Wu allerdings betont, dass im Titel ihres Werks keinerlei religiöse Bedeutung mitschwinge: »Der Titel bezieht sich auf die Herausforderungen, die wir augenblicklich mit Fake News haben: Es kann mitunter tatsächlich sehr schwierig sein, herauszufinden, was in all diesem uns umgebenden lauten Mediengetöse wahr und was falsch ist. Letztlich kann man sagen, dass dieses Werk meine Besorgnis und mein Unbehagen darüber reflektiert.«
Botschaften werden heute oft »verzerrt, entstellt, vereinfacht und verstärkt – auch Manipulation, Propaganda, Populismus genannt«, so Li-Ying Wu im Vorwort der Partitur von The Truth Will Set You Free »die Musik wird deshalb – zumindest am Anfang – gewalttätig, kraftvoll, verzerrt und laut sein, aber hoffentlich wird sich die ›Wahrheit‹ allmählich herauskristallisieren.« Und zwar an Stellen, wo sie nicht erwartet würden, hat sie an anderer Stelle gesagt – eine Einladung für das Publikum, in den unterschiedlichen Schichten des Werks danach zu suchen.
Für The Truth Will Set You Free wollte Li-Ying Wu nicht mit vorgefertigten elektronischen Klängen aus dem Computer arbeiten, sondern die Qualitäten der Instrumentenklänge elektronisch erkunden. Aus diesem Grund war es ihr ein großes Anliegen, für ihr Stück mit dem SWR Experimentalstudio in Freiburg und dem damit verbundenen Ensemble Experimental mit ihrer Expertise für Live-Elektronik zusammenzuarbeiten.
Die Besetzung von The Truth Will Set You Free umfasst Gitarre Klavier, Cello und Schlagzeug. Gitarre, Klavier und Cello sind weitestgehend in ihren herkömmlichen akustischen Klangwerten zu hören. Das Spiel des Cellos hat durch seit langem etablierte instrumententypische Spielweisen wie »auf dem Steg« und »auf dem Griffbrett« eine gewisse Rauheit und Körnung im Klang. Die Gitarre ist an einer Saite mit einem Metallstück präpariert. Das Ergebnis dieser Vorrichtung sind »sehr hohe, zufällig sich ergebene Tonhöhen mit einer kristallenen Klangqualität«, wie es Li-Ying Wu in der Partitur beschreibt.
Besondere Behandlung erfährt der Schlagzeugpart, den Li-Ying-Wu auf verschiedene »Stationen«, wie sie dies nennt, aufgespalten hat. In der Partitur heißt es: »Der Schlagzeugpart ist grundsätzlich auf unterschiedliche Verzerrungsstationen aufgeteilt.« So gibt es etwa eine »E-Gitarrenstation«: Hier wird eine E-Gitarre mit zwei E-Bows und verschiedenen Magneten versehen. Der E-Bow ist ein in der Rockmusik gängiges Gerät für Verzerrereffekte. Mit dem E-Bow wird eine Gitarrensaite durch ein Magnetfeld dauerhaft zum Schwingen gebracht, was gleichmäßige Rückkoppelungen ergibt. Die von Li-Ying Wu zugefügten Magnete manipulieren wiederum diesen Effekt. Über Kontaktmikrophone werden diese Klänge aufgenommen und schließlich live-elektronik weiterverarbeitet. Daneben gibt es eine »Spielzeuggitarren-Station«: Hier kommt eine kleine akustische Spielzeuggitarre zum Einsatz, die ein Kontaktmikrophon am Korpus hat. Indem ein Magnet auf das Kontaktmikrophon wirkt, ergeben sich laute, verzerrte Klänge und brummende Geräusche. Indem – ohne Magnet – leicht auf das Kontaktmikrophon geschlagen wird, entstehen Rhythmusschläge. Außerdem gibt es noch eine Station mit einer Rührtrommel, auf der eine der Scheibenglocken Crotales liegt und auch diverse Schlüssel. Dieser Schlagzeugstation stehen die übrigen Schlagzeuginstrumente gegenüber, die keine Manipulation ihres herkömmlichen Klangs erfahren. Vor allem Instrumente der Metallophongruppe dringen in ihrer Klanglichkeit unverzerrt und ohne spürbare Manipulation durch das Ensemble.
Als Ausdrucksbezeichnung fordert die Parititur »murmelnd, tosend« – der perfekte Gegensatz. Li-Ying Wu erreicht mit ihrer präzise ausgearbeiteten Versuchsanordnung einen vielschichtigen Klangkosmos aus widerstrebenden Kräften, der in rund sieben Minuten ungeahnte Tiefenwirkungen erreicht. Ihre Untersuchung des Phänomens Fake News gerät auf diese Weise nicht – wie womöglich zu erwarten wäre – zur bloßen Noise-Fläche, sondern zu einem komplexen Zusammenspiel sich vielfach verzweigender Entwicklungen – mit akustischen und elektronischen Mitteln.