Work in Progress, multiperspektivische Erforschung verschiedenartiger Klänge, Interaktion zwischen Instrumenten, Elektronik und Sprechstimme, Dialog zwischen Live-Instrumenten und Zuspiel, Wandelgang durch diverse Klangräume, Anthologie von Virtuosenstücken, Kommentar zum Medienkonsum, vielgestaltige Verarbeitung popkultureller Phänomene – all das ist The Dissociated Press Cycle, den Leopold Hurt von 2017 bis 2022 entwickelt hat.
Leopold Hurt hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Zither heute einen festen Platz in der Neuen Musik hat. Und überhaupt in den Konzertpodien avancierter Musikpraxis angekommen ist. Als Interpret und Komponist zeigt er, wie experimentell mit der Zither umgegangen werden kann. Damit bereichert er das zeitgenössische Musikschaffen um markante Farben und eröffnet neue Möglichkeiten. Das Klischee alpenländischer Musizierpraxis und Stubenmusik, das in Mitteleuropa der Zither anhaftet, kann damit getrost zur Seite geschoben werden.
Leopold Hurt tritt sowohl mit der traditionellen Zither als auch mit E-Zither als Solist und in verschiedenen Formationen auf. So ist er etwa Mitglied im Decoder Ensemble, das er 2011 mit Hamburger Kolleg:innen gegründet hat. Im Rahmen eines Projekts des Decoder Ensembles liegt auch der Ursprung von The Dissociated Press Cycle: 2017 veranstaltete das Decoder Ensemble ein Mini-Festival mit dem Titel »Big-Data-Weekend«. In diesem Rahmen wurden acht Werke zeitgenössischer Komponierender zum Thema »Remix« präsentiert. Dabei ging um Fragen nach dem Potenzial und den Konsequenzen angesichts der geradezu unendlichen Verfügbarkeit von Informationen in den digitalen Medien, angesichts von Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI), angesichts gängiger Praktiken des Remix, des Copy and Paste, des Sampling, des digitalen Reycling oder Morphing. Einige der beim »Big-Data-Weekend« vorgestellten Werke wurden später für eine CD ausgewählt, die 2019 erschienen ist, darunter auch das Finalstück von Leopold Hurts The Dissociated Press Cycle.
Leopold Hurt hat im Zusammenhang mit diesem Repertoire angedeutet, dass die schiere Masse des verfügbaren Audio-Materials , das praktisch permanent zur Weiterverarbeitung zur Verfügung stehe, bereits eine immense Herausforderung sei und betont: »Eine wesentliche Intention für das Projekt ›Big Data‹ war, herauszufinden, worin der Reiz besteht, dieses Material zu adaptieren und umzuwandeln.«
Ein Remix ist in der Popkultur seit der Disco-Ära und ihren Dance Remixes ein gängiges Verfahren, um Songs für den spezifischen Einsatz in Clubs in der zeitlichen Länge auszudehnen, dynamischer zu gestalten, energetisch aufzuladen, atmosphärisch zu verdichten und insgesamt neue Schwerpunkte im Stück zu setzen. Das Material des Originaltitels wird praktisch als Steinbruch benutzt. Elemente des Ausgangsstücks werden neuartig zusammengesetzt und in andere musikalische Umgebungen gebracht. So wurde beispielsweise der Hit Let’s Dance (1982) von David Bowie in einem Club Bolly Extended Mix 2002 zur Quelle einer musikalischen Zitatsammlung in einem Stück mit den harten, treibenden Beats und melismatischen Melodieschleifen eines Bollywood-Songs.
Die Digitalisierung hat im Laufe der Zeit die Möglichkeiten des Remix immens vergrößert. In den 1990er-Jahren stieg die Praxis des Remix zur eigenständigen Kunstform auf, Remix-Spezialist:innen erhielten einen Status auf Augenhöhe mit Popstars. Madonna beispielsweise hat 1998 für ihr Album Ray of Light mit Remixer William Orbit als Produzenten zusammengearbeitet. Der Remix-Experte Mirwais hat seit Music (2000) mehrere Alben für Madonna produziert.
Leopold Hurt hat zu seiner Annäherung an das Pop-Phänomen Remix ausgeführt: »Der Zyklus Dissociated Press vereint verschiedene Herangehensweisen an das Prinzip Remix, sowohl auf der Ebene der Sprache als auch der Musik. Dissociated Press – als Wortspiel angelehnt an Associated Press – benennt einen Algorithmus zur automatischen Generierung von Texten auf der Basis bekannter Sprachmuster und Wortschätze. Für das Stück Dissociated Press – Finale habe ich über das Internet ein solches Textkonvolut erstellen lassen. Die sprachlichen Elemente sind zwar bekannt, ergeben jedoch im Zusammenhang keinen übergeordneten Sinn. Semantische Passagen blitzen nur kurzzeitig und eher zufällig auf, z.B. wenn sich der Text scheinbar auf Themen wie Computersoftware oder elektronische Clubszene bezieht.«
Dissociated Press, ein Algorithmus also, der Nonsenstexte hervorbringt auf der Basis von eingespeisten Textvorlagen, trägt in der Verballhornung der internationalen Presseagentur Associated Press stellt bereits im eigenen Namen sein Prinzip aus: Statt Inhalte sinnvoll zu vereinigen werden die Elemente dissoziiert, voneinander getrennt, auseinandergerissen, scheinbar wahllos verteilt. Dies wird in Leopold Hurts letztem Stück seines Zyklus, Dissociated Press – Finale, beim Strom der Worte im Part des Sprechers ersichtlich.
Für die Musik wiederum hat Leopold Hurt eine konkrete Quelle als Ausgangspunkt herangezogen, das Stück Blinded by The Lights, das der britische Rapper und Produzent Mike Skinner mit seinem Projekt The Streets 2004 veröffentlichte. Die Tageszeitung The Guardian urteilte in einer Kritik über diese Musik, dass »nichts jemals die Atmosphäre des Clubbings auf Ecstasy in den 90ern perfekter hervorgerufen habe. Leopold Hurt hat in einem Werkkommentar zu Dissociated Press – Finale sein Vorgehen bei der Komposition erläutert: » Für die Musik diente der Song Blinded by The Lights der britischen Rap-Gruppe The Streets als eigentliche Klangquelle. Tonhöhen und Rhythmen des Tracks wurden mit dem Computer analysiert und das abstrakte Ergebnis wiederum für Ensemble transkribiert. Im Verlauf wird der gewonnene Klangvorrat neu zusammengesetzt und analog zu den Textbausteinen in kurzen Sequenzen abgerufen. Das Ergebnis ist eine Remix-Form, in der die üblichen Wahrnehmungsebenen von Vertrautem und Erfundenem nicht klar definiert sind.« Doch Leopold Hurt hat nicht bloß die Ergebnisse der von der Maschine hervorgebrachten Musik auf Instrumente übertragen, er hat für seinen gesamten Zyklus auch Eigenes dazugeschrieben. Dies alles ist so geschickt miteinander verbunden und so vielfältig in Beziehung gesetzt, dass im Resultat nicht entschieden werden kann, was originär Maschinenmusik ist und was vom Menschen Leopold Hurt hinzugefügt wurde.
Dissociated Press – Finale, das Stück, das in der Chronologie der Entstehung am Anfangs steht, stellt den Schlusspunkt des – Stand heute – fertigen Zyklus dar. Alle übrigen Stücke des Zyklus sind später entstanden und beziehen sich auf das Finale. Leopold Hurt hat dies betont: »Das finale Ensemblestück Dissociated Press ist zugleich Endpunkt und Ursprung der Werkreihe. In den vorangehenden Stücken werden jeweils einzelne Aspekte des endgültigen Materials aufgegriffen und auf charakteristische Weise verarbeitet.« In einem traditionellen Diskurs über Sinfonik würde die Musikkritik hier von einer »Finalsinfonie« sprechen.
Das gesamte Werk The Dissociated Press Cycle besteht aus mehreren Stücken in verschiedenen Besetzungen, die Begriffe wie Input, Output, Insert und Substitute als Titel tragen und jeweils in diesen vier Kategorien durchnummeriert sind. Die Einzelstücke müssen nicht zwingend in der Reihenfolge ihrer Nummerierung im Zyklus gespielt werden, die Abfolge ist frei, auch simultane Zusammenschaltungen der Stücke sind denkbar. In der speziell für Ultraschall Berlin 2023 erstellten Fassung des Zyklus erscheint beispielsweise Insert 3, Insert 2 dagegen fehlt. Bei der Aufführung wirkt Leopold Hurt als Interpret selbst in seinem Stück als Interpret sowohl der herkömmlichen Zither als auch an der E-Zither. Folgende Reihung der einzelnen Stücke wurde für die Aufführung bei Ultraschall Berlin 2023 gewählt:
- Dissociated Press – Input 3 (2019) für Schlagzeug und Zuspiel, wahlweise mit einem Video als Vorspiel. Zum Einsatz kommt ein Drumset, wie es vor allem im Jazz, in der Rockmusik und im Pop wird – passend zu einer Musik, die sich an einem Genre wie Alternative Hip-Hop inspiriert.
- Dissociated Press – Input 1 (2019) für Klarinette und Playback. Es beginnt als Solostück mit einer quirligen Melodielinie in Wellenbewegung, bald setzen Playback-Schichten ein, die sich zunehmend verdichten. Diese Ausdifferenzierung des gesamten Klangraums hat Einfluss auf die Linie der Klarinette, deren Gestalten sich gegenüber dem Live-Spiel tendenziell fragmentieren und teils verbreitern.
- Dissociated Press – Input 2 (2019) für Cello und Zuspiel. Auch hier ist der Solopart anspruchsvoll, vor allem aufgrund vieler Doppelgriffe und chromatischer Schraubbewegungen in kurzen Notenwerten bei komplexen metrischen Verhältnissen. Dies geht gegen Ende einher mit den Ausdrucksanweisungen »gehetzt« und »noch mehr gehetzt«, was schließlich zu einer Erstarrung im Cellopart führt, praktisch zu einer klanglichen Implosion.
- Dissociated Press – Insert 1 (2020) für Ensemble. Es besteht aus Klarinette, Cello, E-Zither, Klavier und Drumset. Die Bewegungen einzelner Instrumente sind weitgehend synchronisiert, etwa zwischen Klarinette, Cello und Klavier, was eine chorische Wirkung entfaltet. E-Zither und Drumset bringen hier kontrastierende Schichten ein.
- Dissociated Press – Input 5 (2020) für Zither solo bringt Zitherklänge ohne elektronische Manipulierung und ohne Zuspiel. Das Instrument wird in Skordatur gespielt, die Saiten sind also umgestimmt, was neuartige Klangverhältnisse hervorbringt. Auch mikrotonale Einfärbungen prägen dieses Stück.
- Dissociated Press – Insert 3 (2020) für Ensemble hat die gleiche Besetzung wie Insert 1. Statt Drumset kommt hier eine Glocke zum Einsatz. Im Gegensatz zu Insert 1 ist Insert 3 viel kürzer, dieses Stück umfasst nur 35 Takte und besteht aus einer Folge von angehaltenen Akkorden, die vom permanenten Klang der Glocke grundiert werden.
- Dissociated Press – Output 2 (2021) für Klarinette und Cello, ein Dialog zwischen Blas- und Streichinstrument, der vorwiegend in parallelen Bewegungen anhebt, zu gemeinsamen kräftigen Akzenten gerinnt, zu einem kleinteiligen Wechselspiel beider Instrumente führt und sich nach einem gemeinsamen ruhenden Klangfeld schließlich zu je einer individuellen Linie in beiden Instrumentenparts entwickelt. Die Informationen im musikalischen Material werden im Laufe des Stücks unterschiedlich zwischen beiden Dialogpartner:innen ausgetauscht.
- Dissociated Press – Output 1 (2020) für Sprecher und Schlagzeug. Die Partie des Sprechers verläuft vorwiegend im gleichen Rhythmus wie der Rhythmus des Schlagzeugtrios (Tomtoms, Bassdrum und Snare Drum), ist teils aber auch unabhängig. Es ergibt sich eine enge klangliche Verknüpfung zwischen menschlicher Stimme und Schlagzeug. Hier geht es somit nicht um Rezitation mit Schlagzeugbegleitung, was die Besetzung nahelegen könnte, der Vokalpart ist vielmehr weitgehend in den Instrumentalpart integriert.
- Dissociated Press – Substitute 1 (2021) für E-Zither. Mit Freeze-Effekten und einem systematischen Durchmessen der tiefen Register des Instruments entsteht ein weites Klangpanorama mit vielen Interferenzen im Obertonspektrum.
- Dissociated Press – Input 4 (2019) für Klavier und Zuspiel bringt Klavierakkorde in neue Zusammenhänge.
- Dissociated Press – Finale (2017) für Sprechstimme, Ensemble und Zuspiel. Im Ausgangsstück und ältesten Teil des gesamten Zyklus umfasst das Ensemble, wie in den vorherigen Ensemblestücken, Klarinette, E-Zither, Violoncello, Klavier und Drumset (Bass Drum und Snare Drum), das optional um sechs zusätzliche Schlaginstrumente erweitert werden kann, um »Z.B. Tomtoms, Bongos, gedämpfte Metall- und Holzobjekte«. Einzige Bedingung bei der Auswahl: »Gewünscht ist stets ein sehr trockener Klang«, so die Partituranweisung. Das Verhältnis zwischen Ensemble und Zuspiel soll absolut gleichwertig sein. Das Zuspiel soll keinesfalls bloß den klanglichen Hintergrund darstellen: »Die Zuspielung soll dynamisch auf gleicher Lautstärke wie das verstärkte Ensemble abgespielt werden. Ensembleklang und Zuspielung sollen verschmelzen«, heißt es in der Partitur. Beim Einsatz des Sprechers gilt, was schon in Output 2 beobachtet werden konnte: Die Sprecherstimme wird als Teil des Instrumentalensembles betrachtet. Ausdrücklich wird in der Partitur gefordert: »Die Stimme soll ebenfalls nicht ›über‹ dem Ensembleklang liegen, sondern eine dynamische Einheit bilden.« Leopold Hurt hat für die einzelnen Passagen des zu performenden Textes in Dissociated Press – Finale genaue Erläuterungen in der Partitur gegeben. Einzelne Passagen des Nonsenstexts mit seinen zwischendurch aufblitzenden poetischen Momenten sollen auf unterschiedliche Weise gesprochen werden, mal »selbstbewusst, stark«, mal »zurückgenommen, leise, introvertiert, nachdenklich, Traumstimme«.
Für die Interpretation des Sprechers in Dissociated Press gibt Leopold Hurt grundlegend folgende Anweisungen: »Grundcharakter immer ›nüchtern, poetisch‹, sachlich, nie zu langsam, selbstbewusst, aber nicht extrovertiert, ›natürliche‹ Spoken-Word-Performance. Vorbild: Der Song Blinded by the Lights der britischen Rap-Gruppe The Strees (Mike Skinner). Innerhalb des Stücks wechseln sich dynamisch starke, rhythmische Teile mit gedämpften, gefilterten und dynamisch zurückgenommenen Abschnitten ab. An dieser stilisierten Songstruktur soll sich auch die Interpretation des Textes orientieren. Die musikalische Dauer der einzelnen Teile ist auf die Länge der jeweiligen Textabschnitte angepasst. Die Sprechstimme sollte in der Einstudierung die Sprechgeschwindigkeit so angleichen, dass der Text in die angegebene Dauer passt. Da die Texte von einem Computer-Algorithmus automatisch erstellt wurden, folgen sie nicht einer korrekten Semantik, (englischsprachigen) Grammatik und Orthographie. Die offensichtlichen ›Fehler‹ wurden nicht korrigiert, sondern sind Teil des Konzepts. Bei der Interpretation soll jedoch der Eindruck entstehen, dass der Text völlig korrekt gesetzt wurde.«
Das klangliche Ergebnis dieses Finales ist so kraftvoll, energiegeladen, übermütig, wild, verwegen, fantasievoll, feurig, wagemutig, voller Spieltrieb und experimentierfreudig wie einst so manches der Ensemblestücke eines Frank Zappa – aber nochmals um einige Umdrehungen komplexer. Diese Musik hat die Anmutung einer Collage, jedoch alles miteinander verschmolzen, vielfältige Idiome erscheinen in Schichtungen, diffus bekannte Gestalten wechseln sich mit Neuartigem ab, Nahes mit Fernem. Zudem gibt es klangliche Raumwirkungen als ob man sich in einem Club zwischen verschiedenen Dancefloors bewegen würde.
In diesen Tagen wird gerade eine neue Sau der Künstlichen Intelligenz durch das digitale Dorf gejagt:
Der neue KI Chatbot ChatGPT sorgt für Furore. Er kann auf Fragen Antworten geben, die so wirken, als habe sie sich ein Mensch ausgedacht. Hochschullehrende fürchten bereits eine Flut von KI-Hausarbeiten ihrer Studierenden. ChatGPT kann Gedichte verfassen, Zusammenfassungen erstellen, und auch Programmtexte für Festivals schreiben. Dies würde zweifellos auf der Textebene ganz andere Ergebnisse hervorbringen als jene des Dissociated Press-Algorithmus. Der digitale Wandel von heute ist die Antiquität von morgen. Glücklicherweise geht es bei Leopold Hurts The Dissociated Press Cycle jedoch nicht um die atemlose Zurschaustellung neuester digitaler Errungenschaften, sondern um eine geistreiche Übertragung eines Phänomens der digital erhitzten Informationsgesellschaft auf das Ensemblespiel und letztendlich um die kritische Auseinandersetzung damit. Mithin das Beste, was Kunst in der Auseinandersetzung mit ihrer Zeit machen kann.
Eckhard Weber