I. The Blue Rose – singing, calmo ma intense
II. The Blue Bird – molto singing, rubato
III. The Blue Moon, a. the bright side, b. Turning, c. the dark side – powerful ma relaxed
»Anájikon für Streichquartett ist die erste Komposition einer Kompositions-Reihe in verschiedenen Besetzungen, die Engeln gewidmet sind. Engel, die als Bilder oder Skulpturen von befreundeten Künstlern entstanden sind, inspirierten mich, ihnen Klang zu geben und sie musikalisch lebendig darzustellen. Farbe, Form und Ton sind für mich untrennbar, und mit dieser gemeinsamen ›Welt‹ im Hintergrund Musik zu komponieren, empfinde ich als eine Herausforderung und als Geschenk«, erklärt die Komponistin Konstantia Gourzi im Vorwort ihres dritten Streichquartetts Anájikon, the Angel in the Blue Garden, das im November 2015 vom Minguet Quartett bei den Kasseler Musiktagen uraufgeführt wurde. Wie ihr Vokalwerk mit Instrumentalensemble Paharión, the Red Angel in the Garden of las Huelgas op. 62, 2015 im Kloster Las Huelgas im nordspanischen Burgos uraufgeführt, wurde auch Anájikon durch eine Bronze-Skulptur von Alexander Polzin angeregt. Der Künstler ist in Berlin vor allem durch sein Denkmal Giordano Bruno, das den S-Bahn-Eingang am Potsdamer Platz auf der Seite des Sony Centers prägt, bekannt. Für Anájikon hat sich Konstantia Gourzi an Polzins Skulptur Engel I aus dem Jahr 1990 inspiriert.
Bildende Kunst begleitet die Komponistin seit ihrer Jugend, Freunde der Familie waren Künstler, ihr Bruder ist Grafiker. »Meine Beziehung zu Farbe und Form ist innerlich eine besondere. Eine Zeitlang habe ich für jedes meiner musikalischen Werke ein Bild gemalt. Diese Verbindung kann ich bei mir nicht trennen«, sagt Konstantia Gourzi im Interview für Ultraschall Berlin. Auch als Dirigentin setzt sie bei Konzerten seit einigen Jahren Licht, Bilder und Skulpturen ein und hat dabei die Erfahrung gemacht, dass dieses Angebot zusätzlicher künstlerischer Sinnesreize die Rezeption von Musik intensivieren kann, eine höhere Konzentration erzeugt. Empfindungen und Assoziationen können vertieft werden, die ansonsten angesichts des letztlich ephemeren Charakters der Zeitkunstform Musik verfliegen würden. »Es geht um Sinnlichkeit und Energievermittlung«, erklärt die Komponistin. Jedoch verfolgt Gourzi dabei keineswegs eine musikalische Ausgestaltung im Sinne der Ästhetik einer Programmmusik: »Die Musik soll nicht die Skulptur interpretieren, sondern ihr klanglich nah stehen«, heißt es im Vorwort der Partitur von Anájikon. Sowohl bei den Eigennamen der Engel ihrer Kompositionen als auch bei der ihnen jeweils beigegebenen Farbe lässt sich die Komponistin von ihrer Intuition leiten. Bei Anájikon ist es ein blau imaginierter Garten: »Diese Empfindung eines Gartens hat mich inspiriert, mich zu fragen, was ich dort wohl sehe, wie es an diesem Ort klingen mag«, erzählt Konstantia Gourzi im Interview. Ein kräftiges Blau steht nach ihrer Empfindung für »das Unkonventionelle, die Fantasie in der Kunst, für etwas Befreiendes, Sauerstoff in meinem Herzen, für den Gott Apollon.«
Apollinisches, Licht und ruhige Kraft, durchströmen den ersten Satz von Anájicon mit dem Titel The Blue Rose, den ein unbeschwertes rhythmisches Pulsieren bestimmt, Siebenachtel-Metrum in den Rahmenteilen, Sechsachtel-Metrum im Mittelteil, der expressive Solofiguren bereithält. Der zweite Satz, The Blue Bird, stellt das instrumentale Singen in den Vordergrund, er ist rhythmisch freier und gibt den Musikern die Möglichkeit, über vorgegebene kurze Figuren zu improvisieren. Der Schlusssatz, The Blue Moon, erwächst organisch aus kleinen Zellen, die zu starken Gesten werden, und ist von ausgeweiteten Spieltechniken bestimmt. Das Bild der Bewegung von der hellen zur dunklen Seite des Mondes, von Nähe zu Ferne, ist als Assoziation prägend für den formalen, strukturellen und klanglichen Verlauf dieses Satzes.
Eckhard Weber