Für ihr neues Stück Nio nätter (»Neun Nächte«) hat Karin Rehnqvist Strophen aus dem epischen Gedicht Blóðhófnir (»Bluthuf«, 2010) der isländischen Dichterin Gerður Kristný ausgewählt. Blóðhófnir ist eine moderne Nachempfindung eines Stoffs aus der alten isländischen Sagaliteratur. Die archaisierende Anmutung, die an Vorbilder aus der Edda erinnert, die kurzen Verse der Zweizeiler, die Alliterationen, die drastischen Bilder, die Dramatik und die direkte Sprache haben Karin Rehnqvist, die für ihr Werk eine schwedische Übersetzung heranzog, sehr beeindruckt. In Blóðhófnir wird die Geschichte eines Frauenraubs aus der nordischen Mythologie neu – aus der Perspektive der Frau – erzählt: Skírnir, der Vasall des Gott Freyr, raubt für diesen die Riesin Gerda. Sie folgt Skírnir, um ein Blutbad in ihrer Sippe zu vermeiden, obwohl sie ahnt, dass die Entführer ihr Gewalt antun werden.
Karin Rehnqvists Komposition Nio nätter besteht aus vier Teilen: (1) Erinnerungen (»… Da liegt mein Land / gehüllt in nachtstille Ruhe / getaucht in stahlkaltes Eis // Hier hängt der / Mond über Flüssen und Tälern / Daheim über / schrecktiefen Klüften …«); (2) Frühling, ein Instrumentalstück; (3) Skirnir (»… Skírnir / fasste mich scharf / ins Aug // Sein Hengst / hoch aufgerichtet / und herrlich gewachsen // dunkel / wie gehauen / aus Düsternis // … Freyr stahl sich / auf Odins Stuhl / sah über die Welten … // Meine hellen Hände leuchteten / sein Verlangen wuchs // Liebe irrte / verwirrt umher // hungrig, schweigsam / fand nirgends Ruh …« und (4) Neun Nächte Angst.
Für diesen Stoff in dieser besonderen textlichen Ausprägung hat Karin Rehnqvist eine dramatische Musik, die von extremen Kontrasten geprägt ist, komponiert. Diese Kontraste bestimmen die Tonhöhen, die Dynamik und die Klangfarben. Aus der Familie der Holzblasinstrumente beispielsweise wurden vor allem diejenigen der tiefen Register gewählt. Diese werden jedoch auch in sehr hohen Lagen gespielt, was sehr besondere, ungewöhnliche Klangwirkungen erzielt.
Im Vokalpart von Nio nätter ist teils auch die Kulning-Technik zu hören, die Karin Rehnqvist ausgiebig erforscht hat und die schon oft Eingang in ihre Werke fand. Mit der Sängerin Lena Willemark verbindet die Komponistin eine gut 30-jährige Beschäftigung mit dieser besonderen Vokaltechnik. Kulning wurde ursprünglich von Schaf- und Ziegenhirtinnen auf den Bergen Schwedens eingesetzt, um Nachrichten über lange Distanzen auszutauschen, ihre Tiere zu rufen und Raubtiere abzuschrecken. Wie der Instrumentalsatz in Nio nätter ist auch der Kulning-Gesang kontrastreich angelegt: Brust- und Kopfstimme werden deutlich voneinander getrennt, Vibrato wird vermieden. Die Technik ermöglicht sehr pointierte, prägnante Vokalklänge in einem weiten Registerumfang, die sogar perkussive Anteile enthalten.
Eckhard Weber