Im nordiranischen Dialekt ist ›Dârvag‹ der Name einer Froschart, die zu singen beginnt, kurz bevor es regnet. In seinem Gedicht Dârvag bezeichnet Nima Youschidsch, ein bekannter iranischer Dichter, der von 1895 bis 1960 lebte, den Gesang des Dârvag als ein Versprechen für Freiheit und Leben:
“Dürre liegt über meinem Land
Anders als das Land meines Nachbarn
Auch wenn sie sagen: »An den nahen Ufern mischen sich Trauernde unter andere Trauernde«
Oh Herold des Regens! Dârvag!
Wann wird es regnen?
Auf eine Behausung, die gar keine Behausung ist
Auf diese unbeleuchtete Hütte, die keine Lebenskraft hat
Wo die Strohhalme in den Wänden brechen »wie das Herz eines Liebenden in der Abwesenheit des Geliebten«
Oh Herold des Regens! Dârvag!
Wann wird es regnen?
Die Struktur des ersten Satzes von Dârvag ist von der ›Basit‹-Form inspiriert, einer persischen Gesangsform aus der Zeit der Safawiden (1501-1736). Da die Musik ein Jahrhundert lang von der safawidischen Verwaltung verboten wurde, blühte die persische Musik außerhalb der politischen Grenzen Persiens auf. Die ›Basit‹-Form wurde in den letzten Jahren durch Forschungen wiederentdeckt. Der zweite Satz ist vom ›Reng‹ inspiriert, einer Tanzform der klassischen persischen Musik.
In diesem Stück werden alle zwölf Dastgāhs der persischen klassischen Musik verwendet, an einigen Stellen gibt es sechs Dastgāhs gleichzeitig in verschiedenen Schichten. [Dastgāhs sind modale Systeme in der klassischen persischen Musik.] Dadurch entsteht eine Art Poly-Modalität auf der Grundlage persischer Dastgāhs. Einige weitere Versionen von Dastgāhs fanden Eingang in den Solo-Part. Diese Versionen sind in verschiedenen Regionen der ›persisch-türkisch-arabischen Musik‹ zu finden. (Zum Beispiel gibt es eine Art von Sagāh, die in der klassischen türkischen Musik zu hören ist.)
Der schnelle und ständige Wechsel der Modi und ihre mangelnde Stabilität, die als eine Form von Freier Modalität betrachtet werden kann, ist von der Musik der Safawiden inspiriert. (In der klassischen persischen Musik nach der Ära der Safawiden tendieren die Musiker immer mehr zur Stabilität und halten an nur einem modalen Zyklus oder Dastgāh fest).
Einige Auszüge aus Nima Yooshijs Gedicht Dârvag sowie Auszüge aus zwei Gedichten von Mehdi Achawan-Sāles, einem iranischen Dichter (1928-1990), werden von den Instrumentalisten in Farsi gesprochen oder geflüstert. Das erste Gedicht von Achawan-Sāles ist Chavoshi, die Erzählung einer Reise vom Mutterland ins Niemandsland:
… An diesem Ort fürchte ich mich vor einer Umarmung und einem Angriff gleichermaßen.
Ich fürchte mich vor dem Angreifer und dem Opfer gleichermaßen
Ich fürchte mich sogar vor diesem Bild an der Wand…
Das zweite Gedicht ist überschrieben: Ich sah eine Gruppe junger Leute, die so waren…:
…Ihr Alter: sechzehn bis zwanzig
Ihr Satz: zwanzig bis zur Ewigkeit…
Die Komposition dieses Stücks fiel in die Zeit der Bewegung ›Frau, Leben, Freiheit‹ im Iran und ist in seinem dramatischen Inhalt von den Ereignissen des ersten Monats dieser Bewegung inspiriert.
Dârvag ist jenen jungen Männern und Frauen gewidmet, die ihr Leben gaben, um den Frauen im Iran, unserem Mutterland, die Freiheit und das Leben zurückzugeben.
Karen Keyhani