„Ich bin schon immer der Meinung gewesen, dass Architektur und Musik eng miteinander verbunden sind“, sagt der Komponist Jüri Reinvere im Interview für Ultraschall Berlin. „Die westliche Musik hat sich so, wie wir sie kennen, entwickelt, weil die Räume wofür sie geschrieben wurde, größer wurden. Die Leute mussten sich damit auseinandersetzen, wie man solche Räume mit Klängen füllt, wie Töne diese großen Räume durchdingen können.“ Jüri Reinvere sieht beispielsweise in einer sich wandelnden Architektur, etwa in der Erweiterung des Kirchenraums während der Gotik, einen der Gründe für die Entwicklung der Polyphonie: „Sie ist entstanden, um den Cantus firmus akustisch im Raum zu verstärken.“ Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist für Jüri Reinvere das frühe Doppelrohrblattinstrument Schalmei eng mit den grundlegenden Fragen bei historischen der Entwicklung der Musik verbunden. Eine Blockflöte beispielsweise hätte weniger Möglichkeiten gehabt, klanglich einen großen Raum zu erfüllen. Mit Hilfe des technischen Details der Rohrblätter am Mundstück der Schalmei erreicht die klingende Luftsäule im hölzernen Rohr dagegen eine größere Intensität, was der Dynamik zugutekommt. Eine Schalmei kann mit ihren Klang sehr präsent einen großen Kirchenraum durchdringen.
Aus diesen Überlegungen heraus fühlt sich Jüri Reinvere bei der Schalmei auch „sehr nah am Ursprung unserer Musik“, wie er sagt. Deshalb spielt in seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit der Schalmei auch die Historizität des Instruments eine Rolle. So prägt etwa eine versteckte Polyphonie, die er generell interessant bei einem Stück für ein Solo-Blasinstrument findet, die Struktur seines Stücks für Katharina Bäuml. Außerdem spielen rhetorisch-musikalische Figuren aus der Renaissance-Musik eine wichtige Rolle. Auf diese semiotischen Zeichen, die viel über die Weltsicht der Epoche erzählen, reagiert Jüri Reinvere aus seiner heutigen Perspektive. „Ich verhalte mich dabei kompositorisch allerdings undogmatisch und fühle mich dabei völlig frei, wie ich darauf reagiere“, bemerkt der Komponist. Sein Stück ist die individuelle Auseinandersetzung eines Komponisten unserer Zeit mit musikalischen Elementen, die einst an der Schwelle zur Neuzeit ausgeprägt wurden. Die Schalmei vermittelt klanglich zwischen den Epochen. Neben ihrer Historizität, die das Instrument seiner Ansicht nach im Klang transportiert, hat die klangliche Farbe des Instruments für Jüri Reinvere auch etwas sehr Intimes, die mit der Präsenz des Holzes im Klang des Instruments zusammenhängt: „Man kann fast fühlen, wie das Holz den Klang erzeugt“, findet er.