Im März 2020 begann der erste durch Covid-19-bedingte Lockdown in Österreich. In diesem Moment hörte unser bisheriges Leben schlagartig auf und etwas für uns vollkommen Neues kehrte ein. Ich unterbrach von einem Tag auf den anderen all meine kompositorische Arbeit und hatte das Gefühl, diese wäre nicht mehr relevant, da diese Kompositionen die Realität nicht widerspiegelten. Monatelang konnte ich nicht komponieren. Es beschäftigte mich immer wieder dieselbe Vorstellung: Wie leben Menschen im Lockdown? Was passiert in den Wohnungen, in diesen isolierten Mikrowelten, welche vor uns verschlossen bleiben?
Ich komponierte das Stück FENSTER im Dezember 2020, während des zweiten Lockdowns in Österreich. Es ist wie ein lebensgroßer Adventskalender: Wir öffnen nacheinander zwölf Fenster und schauen in die jeweilige Welt dahinter. Jeder Satz des Stückes dauert 90 Sekunden – genau so lange, wie jedes Fenster geöffnet bleibt. Wir können die Fenster in beliebiger Reihenfolge öffnen. Die Auswahl und Reihenfolge der Sätze sind den MusikerInnen überlassen. Somit kann das Stück in unzähligen Variationen gespielt werden. Die Gesamtdauer variiert zwischen 90 Sekunden und 18 Minuten.
Die größte Herausforderung in diesem Stück finden die MusikerInnen wohl in der Darstellung von zwölf Welten mit extrem unterschiedlichen Charakteren und die Gestaltung eines großen musikalisch-dramaturgischen Bogens über das gesamte Stück.
Judit Varga
Das Stück ist in zwölf Sätze (I – XII) unterteilt. Die Auswahl und Reihenfolge der Sätze ist den MusikerInnen überlassen. Es sollte jedoch kein Satz mehrfach gespielt werden.
Für manche Sätze existieren Versionen für Klarinette und für Bassetthorn. Es soll jeweils höchstens eine Version davon gewählt werden.
Es ist darauf zu achten, dass die Pausen zwischen den einzelnen Sätzen den musikalischen Bogen nicht unterbrechen. Die Pausen zwischen den Sätzen sind möglichst kurz zu halten.
(Judit Varga: Vorbemerkungen in der Partitur von FENSTER. Zwölf wundersame Welten im Lockdown)
Judit Varga, weshalb haben Sie sich für FENSTER im Holzbläserpart sowohl für Klarinette als auch für das tiefere Bassetthorn entschieden? Das Bassetthorn ist zwar für einige Werke von Mendelssohn und Mozart erforderlich, aber ansonsten begegnet es uns ja selten.
Mittlerweile existiert sogar eine vollständige Version für Bassetthorn (plus Cello und Klavier). Einige dieser neuen Sätze werden in Berlin das allererste Mal gespielt. Meiner Meinung nach hat sich dieser Charakter der Stücke in der neuen Besetzung mit Bassetthorn nicht allzu sehr verändert, der Klang ist etwas runder, da die Klarinettenstimme meist eine Oktave tiefer auf das Bassetthorn transponiert wird. Dadurch verschmilzt der Klang viel besser mit dem Cello. Das ist ein Vorteil für Sätze mit homogenem Material. Ich bevorzuge inzwischen fast überall die Version mit Bassetthorn.
Nicht nur die Reihenfolge der einzelnen Stücke Ihres Werks kann vom Ensemble frei bestimmt werden, sondern auch die Auswahl. Im extremen Fall wäre es auch möglich, bloß eines dieser kurzen Stücke für die Aufführung auszuwählen. Wie wirken die unterschiedlichen Interpretationen auf Sie persönlich?
Ja, die Form ist sehr offen, das Stück kann 90 Sekunden oder 12 x 90 Sekunden und alles dazwischen dauern. Auch die Reihenfolge der Sätze ist frei. Daraus ergibt sich eine unglaubliche Anzahl von Variationen, so dass man mit Durchprobieren ein Leben lang nicht fertig wird. Ich kann also nur in der Theorie sicher sein, dass alle Varianten gleich gut funktionieren. Dass dies der Fall ist, war eine große Herausforderung beim Komponieren.
Es gibt auch von Ihnen erstellte Zeichnungen zu den 12 Sätzen.
Ja, die 12 Sätze werden von 12 Zeichnungen begleitet. Da es sich nicht um Programmmusik handelt, kann ich keine Beschreibung der einzelnen Sätze in Textform geben. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass die Musik zuerst da war und erst dann die Zeichnungen entstanden.
(Interview: Ecki Ramón Weber)