Der Titel der neuen Komposition von Johannes Kalitzke, story teller, wurde angeregt durch das bemerkenswerte Schaffen des Modefotografen Tim Walker, dessen fotografische Inszenierungen weit über die üblichen Darstellungen in der Branche hinausgehen. „So wie die Bilder von Walker einen erzählerischen Raum eröffnen, entsteht aus statischen klanglichen Elementen bzw. Zuständen eine musikalische Dramaturgie“, hat der Komponist im Interview für Ultraschall Berlin den Bezug auf sein neues Werk erläutert. Kalitzkes story teller ist eine Art modernes Cello-Konzert, bei dem Soloinstrument und Orchester – um im Bild der Fotografie zu bleiben – in unterschiedlicher Weise in den Fokus genommen werden. „Das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiven folgt in jedem Satz einem eigenen Ansatz. Am Anfang im klassischen Sinne als Solo-Instrument verstanden, wird der Solo-Part schrittweise in den Tutti-Apparat eingebunden, also zum Dialogpartner oder zu dessen Bestandteil, und wird am Ende von den rotierenden Klangmassen aufgesogen“, erläutert dies Kalitzke.
Gerade diese wechselnde Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund, Einzelnem und Kontext konnte der Komponist im Bildaufbau von Walkers Modefotos finden, wie Johannes Kalitzke erzählt: „Es geht um eine Spiegelung der unterschiedlichen Verhältnisse von einem jeweiligen Objekt und seiner Umgebung, das diese Bilder kennzeichnet. Das Modell verhält sich mal exponiert, mal integriert oder auch marginalisiert zum Raum. Das ist die Spezialität von Walker: er schafft mythische Zusammenhänge und rekonstruiert eine Aura des Märchenhaften, in welchem das Modell zum Akteur wird. Die Geschichte dieses Stückes ist jedenfalls eine des Verschwindens, eine, in der Individualität zur Maske der Umgebung wird, wo das Persönliche, Unvergleichliche, in einem Strom verschwindet, der in seiner Aufladung von Bilderflut und Kommerzialität fast gewalttätig wirkt. Die Arbeiten von Walker enthalten oft völlig zerstörte Räume, das Modell sieht kränklich aus oder steht entfernt und dezentralisiert im Hintergrund.“
Johannes Kalitzke hat früher einmal über seine Musik geäußert, er strebe als Komponist danach, „möglichst widersprüchliche klangliche Ereignisse so zu verbinden“, dass es zu einer Homogenisierung komme und auf diese Weise „eine Art paradoxale Synästhesie“ geschaffen werde. Im Fall von story teller dient konkret eine klanglich besonders auffällig markierte Schicht als solch eine gegensätzliche Komponente: Elektronik in Form gesampelter Sounds. Diese sich zum Übrigen stark kontrastiv verhaltenden Klänge stehen in story teller für die von Kalitzke angesprochene „Bilderflut und Kommerzialität“. Die vom Sampler erzeugten Elemente seien gerade jenen „konkret-akustischen und kommerziellen Klangtypen zuzuordnen“, erläutert dies Johannes Kalitzke.
Dass seine Musik bei allen Kontrasten auch über einen relativen langen Zeitraum nicht auseinanderfällt, liegt am charakteristischen Strukturdenken von Johannes Kalitzke, das auf integrierende Kernelemente basiert, die im Zeitverlauf eine Transformation durchmachen. Der Komponist erklärt dazu: „Es werden gleichbleibende Strukturen durch wechselnde Räume geschickt und im Sinne einer Mimikry durch die jeweiligen klanglich-stilistischen Umgebungsbedingungen verändert.“ Johannes Kalitzkes story teller besteht aus sechs Sätzen, schaukel – eiserne puppe – manhattan butterfly – bett im licht – ruinenfee – panic room, „innere Bilder, die mich während des Schreibens begleitet haben und den Fotografien ähneln“, so Kalitzke. Die Sätze gehen ohne nennenswerte Zäsuren ineinander über und weisen trotz ihres jeweils unterschiedlichen Charakters strukturelle Bezüge untereinander auf, was dem gesamten Werke eine Kohärenz verleiht. Der Komponist legt dies an einem konkreten Detail dar: „Beispielsweise zieht sich durch das ganze Stück hindurch eine rotierende Intervallbewegung in den Bässen, die zum Schluss hin immer mehr dominiert und den letzten Satz komplett ausfüllt; panic room heißt der letzte Abschnitt deshalb, weil das Solo-Instrument davon gänzlich überrollt wird.“ Gerade in diesem Schlusssatz kommt erneut das Anliegen Johannes Kalitzkes zum Tragen, mit Musik Stellung zu gesellschaftlichen Fragen zu beziehen und eine deutliche Gegenposition einzunehmen angesichts multimedialer Verflachung und permanenten Aufflackerns digitaler Welten, die gerade so etwas wie Konzentration, Vertiefung, Differenzierung, Versenkung verhindern und damit auch das, was Psychologen als für die individuelle Zufriedenheit wichtigen Flow bezeichnen. Johannes Kalitzke sagt in diesem Zusammenhang über seine Haltung als Komponist: „Es geht mir eher darum, Musik im allgemeinen als eine Meta-Sprache zu verstehen, die in einer vieldeutigeren Weise, als es die Sprache vermag, das typische unserer Gegenwart reflektiert, also deren soziologische, politische und poetische Aura. Dieses Potential wird ganz allgemein in der kommerziell dominierten öffentlichen Wahrnehmung zunehmend unterschätzt.“
Eckhard Weber