Johannes Ciconia, geboren in Lüttich um 1370, gestorben in 1412 in Padua, ist ein früher Vertreter einer langen Reihe flämischer Komponisten, die in Italien wirkten. Zunächst ging er nach Rom in päpstliche Dienste, ab 1401 war er Kaplan an der Kathedrale von Padua. Ciconia verschmolz die Techniken der ars nova und ars subtilior aus der franko-flämischen Mehrstimmigkeit mit dem frühen wortgebundenen Madrigalstil Norditaliens. Als Geistlicher komponierte er Sakralmusik, aber auch weltliche Stücke. Er schrieb Motetten mit weltlichen Inhalten und lud weltliche Liebesgesänge mit biblischen Bildern auf. Diese Ansätze, Grenzen aufzulösen, bestimmen das Programm, das die Mezzosopranistin Hildegard Rützel und das Duo mixtura bei Ultraschall Berlin präsentieren.
Ausgangpunkt für diese dramaturgische Ausrichtung ist das bekannteste Stück von Ciconia, eines der populärsten Chansons seiner Zeit: O rosa bella, das eine außergewöhnliche Expressivität in der Wortausdeutung für die Epoche aufweist. Die italienischen Verse, frei ins Deutsche übertragen, lauten: »Oh schöne Rose / Oh meine süße Seele / Lass mich nicht / in höfischer Tändelei sterben«. Das Bild der Rose für die Angebetete ist dem biblischen Hohelied entlehnt, selbst eine die Grenzen sprengende Textquelle zwischen Liebeslyrik und religiösem Text.
Gli atti col danzar ist dreistimmige Ballata, die verbreitetste Form weltlichen Gesangs zu jener in Italien, auch in Bocaccios Decamerone kommen Ballate vor. Dieses Stück von Ciconia ist eine beschwörende Liebesklage, deren melancholischer Charakter sich direkt mitteilt. Darin heißt es: »Meine holde Dame, ihr könnt es nicht wollen, mir solch großen Schmerz zuzufügen. Durch Eure Grausamkeit, vergeht mir das Leben, wenn es keinen Trost gibt, wird meine Seele mich verlassen.«
Die vierstimmige Motette O felix templum jubila ist ein Widmungsstück mit feierlichem Charakter auf Stefano da Carrara, den Bischof von Padua zu Ciconias Zeit dort. Ob sich Ciconia mit dieser Musik bei seinem Eintritt in den Dienst an der Kathedrale empfahl oder es zur Weihe einer neuen Kirche, von der im Text die Rede ist, erklang, ist nicht eindeutig zu klären. Dagegen ist der Anlass für die weltliche Motette Venetia mundi splendor eindeutig: 1405 kam Padua unter die Herrschaft der damals in Norditalien expandierenden Republik Venedig, und Ciconia komponierte eine repräsentative Musik, worin Venedig überschwänglich als »Glanz der Welt«, als »Stolz Italiens« und »Mutter des Meeres« bezeichnet wird.
So wie sich Johannes Ciconia die Freiheit nahm, die Genres, die Themen und Kompositionstraditionen seiner Epoche zu vermischen, so vermessen die für das Duo Mixturo komponierten Werke unserer Zeit ebenfalls die Grenzen zwischen Vokal- und Instrumentalmusik sowie im Verhältnis zwischen menschlicher Stimme und Instrumentenklang die Verhältnisse jeweils neu – jenseits von Gattungs- und Formtraditionen.
Eckhard Weber