I Una ricerca
II Romanze
III Mobile
»Das Violinkonzert ist eine ›heilige‹ Gattung. Auch eine Gattung, der man Persönlichstes anvertraut. Zumal dieses Violinkonzert meiner Schwester gewidmet ist«, so Jörg Widmann über sein Violinkonzert Nr. 2. Seine Schwester, die berühmte Geigerin Carolin Widmann, hat es im August 2018 in Tokyo zur Uraufführung gebracht, gemeinsam mit dem Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra unter der Leitung des Komponisten.
Der Kopfsatz trägt den Titel Una ricerca. In der Musik ist dies konkret »eine Suche der Geige nach sich selbst, nach der eigenen Stimme. Eine Suche nach Klängen, Gesten, Gestalten, Zusammenhängen«. So hat Jörg Widmann es erläutert. Tatsächlich ist hier ein eindrückliches Herantasten des Soloparts an Gestalten zu bemerken, jeweils in Auseinandersetzung und in klanglicher Begegnung mit einzelnen Orchestersolisten, einhergehend mit dem Ausprobieren unterschiedlicher Spiel- und Stilarten. Dies hat im Gestus mitunter theatrale Züge – mit der Solistin als Performerin an der Geige.
Der Raum greifende Mittelsatz ist mit Romanze überschrieben, ein Begriff, belegt mit Traditionen und allzu bekannten Assoziationen, vor allem aus der Musik der Romantik. Aber in der Komposition von Jörg Widmann ist der Gehalt komplexer und differenzierter als der Titel auf den ersten Eindruck nahelegt: Der Satz entpuppt sich als hochexpressives Violinsolo, mal auf dezenter oder zerklüfteter Orchestergrundierung, mal unbegleitet. Mit vielen Gelegenheiten, unterschiedliche Spieltechniken und Ausducksbereiche zu erkunden. Auch Versatzstücke aus bekannten Gesängen scheinen aufzuscheinen, so etwa kurz die alte englische Weise Scarborough Fair, aber auch elegante Wendungen aus einem französischen Chanson oder diffuse Erinnerungen an die emotionalen Verführungsstrategien der Virtuosen- und Orchesterstücken aus Romantik und Spätromantik, ebenfalls Eindrücke von der Opernbühne. Dies Alles in einem individuellen Zugriff, der Sogkraft entfaltet. Für Jörg Widmann wird in diesem Satz »ein weit verzweigter seelischer Kosmos aufgespannt, es ist eine Reise ins Innere. Unterschiedlichste emotionale Zonen werden durchquert, Liedhaftes, Zartes steht neben Geräuschhaftem und bruitistischem Ausbruch. Aber immer bleibt die Geige die Erzählerin.«
Im Schlusssatz Mobile zersplittert der vormalige Violingesang tendenziell. Das Geschehen wird disparat, aufgrund seiner rhythmischen Dynamik sogar mit Hang zum Spektakulären. Als dialektisches Gegengewicht stehen diesem geradezu zirzensischen Überschwang überraschend körnige und geräuschhafte Abschnitte gegenüber. »Bewegungsmuster der vorangegangenen Sätze werden hier in eine unablässige Hochgeschwindigkeitsbewegung hineinkatapultiert und auf die Spitze getrieben. Der Gestus bleibt aber fast durchgehend leicht«, so Jörg Widmann in seinem Kommentar zum Werk.
Ist das Violinkonzert Nr. 2 ein postmodernes Bravourstück? Ein klingendes Füllhorn mit theatralen Seiten? Eine so ausgeklügelte wie eigenwillige Auseinandersetzung mit europäisch geprägten Traditionslinien? Vor allem ist es eine Musik, die von großer Liebe zum Soloinstrument zeugt, realisiert mit den Kunstmitteln unserer Zeit. Für die Verhältnisse des so unaufhörlich kreativen wie produktiven Komponisten, Dirigenten und Klarinettisten Jörg Widmann, der in allen Bereichen durch verblüffende Vielseitigkeit beeindruckt, sei sein zweites Violinkonzert eine Übung in Reduktion, wie er erklärt hat, »ein permanentes spielerisches Variieren eines trotz Klang- und Farbvielfalt im Grunde streng limitierten Tonmaterials und Gestenvokabulars.« Dies bedeutet bei Jörg Widmann bei aller Beschränkung noch immer ein überaus reichhaltiges Kunstwerk.
Eckhard Weber