5. Streichquartett mit Sopran. Erstaufführung der Fassung mit Blockflöte (2005/19)
Zwischen 1997 und 2005 hat Jörg Widmann vier Streichquartette vorgelegt. Beim fünften kam die menschliche Stimme hinzu, uraufgeführt Februar 2005 in Köln von Juliane Banse und dem Artemis Quartett: In Versuch über die Fuge singt der Sopran Bibelverse aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet (Buch der Prediger). Jörg Widmann nahm aus Kohelet 1 die Verse 2, 3, 4 und 9 und aus Kohelet 7 den Vers 24, allesamt Reflektionen über Vergeblichkeit und Vergänglichkeit, beginnend mit den lateinischen Worten: »Vanitas, vanitatum / Omnia vanitas / Generatio preaeterit et generatio advenit / terra vero in aeternum stat.« (»Es ist alles eitel, es ist alles ganz eitel. / Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich.«) Dies könnte als Motto für die Auseinandersetzung Jörg Widmanns mit der Gattung generell gelten. Mit Blick auf sein erstes Streichquartett hat er einmal bekannt: »Natürlich ist es eine ganz besondere Herausforderung für einen Komponisten, seine erste Streichquartett-Komposition zu schreiben, hat man doch die ›riesenhafte‹ Literatur für diese Besetzung ständig im Hinterkopf.« Dieses hypertextuelle Denken zieht sich durch alle Quartette von Jörg Widmann, die Tradition der Gattung begleitet die Struktur der Werke als Schatten aus der Vergangenheit, ist Hürde, Inspiration und Chance für neue Positionen. Sein fünftes Streichquartett, das bei Ultraschall Berlin in einer neuen Fassung mit Streichquartett und Blockflöte erklingt, hat Jörg Widmann mit der Fuge in Zusammenhang gebracht, die – so der Komponist – oft in der Musikgeschichte als Schlussteil eines Werks als Satztechnik gewählt wurde. Er betrachtet sein Streichquartett Nr. 5 indes als »Genese einer Fuge, keine Fuge. Als ›Flucht‹, als Vielzahl von Anläufen zu einem Fugenthema wird sie allerdings wörtlich genommen: eng motivisch miteinander verwobene Themenfragmente und Phrasenkürzel tauchen auf und brechen schroff ab. Sie streben auseinander und sind doch immer mehr aufeinander bezogen.« Es gibt darüber hinaus jedoch noch einen »Elefanten im Raum«. Was Jörg Widmann nämlich nicht erwähnt, sich jedoch sofort beim Hören erschließt: Der Bezug auf eines der Gipfelwerke in der an Ikonen reichen Gattungsgeschichte, der sich geradezu aufdrängt bei einem Titel wie Versuch über die Fuge: Ludwig van Beethovens Streichquartett Große Fuge B-Dur op. 133. Dessen Kopfmotiv zieht sich als Zitat und Paraphrase – als begleitender Schatten – durch Versuch über die Fuge. Indem Jörg Widmann das Ringen, die Auseinandersetzung mit den Vorläufern, die Zweifel und die eigenen Reflexionen miteinkomponiert, erhält sein Werk eine eigene Authentizität und einen sympathischen Zug an Menschlichkeit.
Eckhard Weber