Joanna Woznys Orchesterstück Archipel wurde im Januar 2009 in der katholischen Pfarrkirche Herz-Jesu-Kirche in München-Neuhausen uraufgeführt. Das 2000 geweihte Gotteshaus, ein riesiger lichtdurchfluteter, gläserner Quader, ist einer der spektakulärsten Sakralbauten Münchens. In dieser Architektur lief die Konzertreihe »Paradisi gloria« des Münchner Rundfunkorchester mit seinem Künstlerischen Leiter Ulf Schirmer, die mehrere Auftragswerke präsentierte. In all diesen Stücken ging es um die musikalische Auseinandersetzung mit der im katholischen Glauben zentralen Figur der Maria und dem Magnificat (»Meine Seele preist die Größe des Herrn«), dem Lobgesang der Maria, überliefert im Lukasevangelium. Die Komponistin Joanna Wozny hat sich für das Thema »Maria« entschieden. Die Figur der Gottesmutter ist nicht nur in Joanna Woznys Heimat Polen als Objekt der Verehrung allgegenwärt, sondern prägt auch stark sowohl das Stadtbild als auch die religiösen Riten in der österreichischen Stadt Graz, wo die Komponistin heute lebt.
Es ging Joanna Wozny jedoch nicht darum, eine Vorlage aus dem großen Repertoire der die Gottesmutter Maria thematisierenden liturgischen und nicht liturgischen Texte zu vertonen. Stattdessen hat sie sich für ein Werk ohne Worte entschieden. Darin lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Aspekte der Kontemplation und auf die Darstellung Marias als introspektivem, introvertiertem Charakter, wie er in der Bibel an vielen Stellen gezeichnet wird, etwa in der Weihnachtsgeschichte bei Lukas, wenn es in Vers 2,18 heißt: »Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.«
Eine grundsätzliche künstlerische Entscheidung hat Joanna Wozny bereits in der insgesamt zurückgenommenen Dynamik ihres Werkes getroffen: »Ich finde den Bereich zwischen vierfachem Pianissimo und Mezzoforte ausreichend, um darin zahllose Welten zu erschaffen«, so die Komponistin. Mit Blick auf den Titel ihres Stücks, der eine Inselgruppe nahelegt, hat Joanna Wozny erläutert, Archipele seinen »fixierte Objekte, die aus einer Masse hervor- oder heraustauchen«. Der musikalische Satz von Archipel besteht aus Akkordflächen, die sich durch Glissandobewegungen, kleine Intervallschritte, Motivpartikel und unterschiedliche Farbmischungen des Orchesters subtil verändern, und Pausen mit entscheidender Funktion. Haben die Klangflächen bereits aufgrund ihrer mitunter kontrastreichen klangfarblichen Schichtungen eine eigene intensive Binnenspannung, so wird dies noch durch die Pausen dazwischen verstärkt. Sie wirken als Spannungsfelder zwischen den Klängen. Im Rahmen dieser fein austarierten Dramaturgie entsteht der Eindruck einer intensiven Bewegtheit »im Inneren« dieser »äußerlich« unbewegten Klangflächen, die nur scheinbar unvermittelt aufeinanderfolgen, jedoch im Gesamtaufbau minutiös genau angelegt sind. Auch Assoziationen zu einer der Meditation dienenden Litanei, bei der Anrufungen aus der Stille wiederkehren, liegen nahe. »Pausen sind auch Geschehen. Sie erklingen genauso wie die Musik«, erklärte Joanna Wozny einmal. Mit diesem Blick auf die Welt der Klänge befindet sie sich in einer Traditionslinie, die von der Gregorianik über Franz Schubert und John Cage reicht.
Eckhard Weber