Der in Madrid lebende Komponist Jesús Torres studierte am Conservatorio Superior de Música der spanischen Hauptstadt. Parallel dazu nahm er in den 80er Jahren als Student Unterricht bei zwei der prägenden Gestalten der Neuen Musik Spaniens, Luis de Pablo und Francisco Guerrero. In seinen Werken setzt sich Jesús Torres oft aus heutiger Perspektive mit der spanischen Kultur auseinander, sei es in der Beschäftigung mit der Literatur, der Kunstgeschichte oder mit den unterschiedlichen Musiktraditionen Spaniens.
Das Cuarteto con piano entstand in der Saison 2017/18 während seiner Zeit als Residenzkomponist des Centro Nacional de Difusión Musical, einer staatlichen Institution zur Förderung zeitgenössischer Musik in Spanien. In diesem Rahmen gab es Konzerte mit Torres‘ Werken in mehreren spanischen Städten sowie in Bukarest und Sofia, darunter vier Uraufführungen neuer Stücke. Eines davon war das Cuarteto con piano, präsentiert vom Notos Quartett April 2018 im Museum für zeitgenössische Kunst Centro de Arte Reina Sofia in Madrid.
In einem Werkkommentar erklärte der Komponist, dass er versucht habe, »eine erkennbare Klanglichkeit spanischen Ursprungs« zu komponieren, jedoch, so Torres, »jenseits jedweder Art von Folklorebearbeitung; es ging vielmehr darum, die Essenz der spanischen Musik, besonders einige Charakteristika des Flamenco einzufangen.« So erklingen im Klavierpart etwa Evozierungen des Gitarrenspiels im Flamenco mit raschen Arpeggien oder clusterartigen Akkorden, die an das Mitschwingen der leeren Gitarrensaiten erinnern. Pulsierende Tonrepetitionen, synkopische Rhythmen, Akzentverschiebungen, sowohl im Klavier als auch in den Streichern, erinnern an die rhythmische Vielfalt im Repertoire des Flamencos. Die Linien der Streichinstrumente, das Umkreisen von Zentraltönen, trillerartige Einwürfe, Skalenmelodik und charakteristische Wendungen wie die Folge von großen, kleinen und übermäßigen Sekunden weisen auf die Vokalpraxis im Flamenco und im ältesten Repertoire dieser Tradition, dem cante jondo. Die verarbeiteten Stilelemente werden in Torres‘ Cuarteto con piano zwischen den vier Instrumenten auf unterschiedliche Weise immer wieder neu verhandelt, komprimiert, fragmentiert, latent im Hintergrund oder zwischendurch offen aufblitzend. Das Stück folgt in seiner Großform klassischer Viersätzigkeit mit den Sätzen Impetuoso (»ungestüm«), Con furor (»mit Wucht«), Introvertido (»introvertiert«) und Eufórico (»euphorisch«).
Eckhard Weber