Den niederländischen Komponisten Jesse Broekman interessieren nach eigenem Bekunden Klänge, die instabil und unvorhersehbar in ihrem Charakter sind. Er hat bislang Stücke fürs Musiktheater, für Tanz und Installationen komponiert, schreibt aber in der Instrumentalmusik vor allem für kleine Besetzungen: Solo-, Duo-, Triowerke. Darin lotet er die Klänge in den Beziehungen untereinander sensibel aus. Wenn er für größere Besetzungen komponiert, kommt es ihm geradezu „überfüllt“ vor, wie er im Interview für Ultraschall Berlin sagt. Die sieben Instrumente in der Besetzung des Ensembles LUX:NM bei Ultraschalll Berlin 2022 wirken auf ihn „schon fast wie ein Orchester“. LUX:NM, das der Komponist schon länger beobachtet, sei seines Erachtens spezialisiert auf einen sehr direkten Klang. „Sie haben ein eher lautes Instrumentarium, ich glaube, sie spielen auch gerne laut“, stellt Jesse Broekman fest, „und sie sind rhythmisch sehr präzise. Das ist die außergewöhnliche Qualität dieses Ensembles auf diesem hohen Level.“ Aber, so der Komponist, „es ist ein anderes Repertoire als würden sie die ganze Zeit beispielsweise Stücke von Salvatore Sciarrino spielen.“ Die Musik von Jesse Broekman dagegen ist vorwiegend leise und intim. „Deswegen musste ich eine Art finden, diese beiden Welten zu verbinden. Dabei hilft mir die Elektronik. In A Map of Horizonssuche ich nach einer gewissen Schwebung in diesem sehr direkten Klang des Ensembles. Ich habe versucht, ein Umfeld zu schaffen, das die Instrumente sozusagen verbindet.“
Doch Jesse Broekman, der seit drei Jahren in Belgien lebt und am KASK Conservatorium Gent elektronische Komposition lehrt, sagt von sich, er habe „ein bisschen ein angespanntes Verhältnis zum Phänomen Elektronik.“ Das liegt an seiner Ausbildung: Neben dem Philosophiestudium in Amsterdam hat er an der Medienakademie der Hochschule für Künste in Utrecht eine Ausbildung im Fach „Musik und Technologie“ absolviert. Er fing mit Filmmusik an, sei aber dann schnell „ins Zeitgenössische abgerutscht“, wie er es selbstironisch formuliert, ein Kompositionsstudium bei Marco Stroppa in Stuttgart schloss sich an. In Utrecht hat er Erfahrungen in Produktion, Studiotechnik und Softwareentwicklung für Musikanwendung gesammelt. Im niederländischen Rundfunk hat er als Tontechniker gearbeitet, und für verschiedene Ensembles übernahm er die Live-Elektronik.
Jesse Broekman weiß also genau, wovon er spricht. Er kennt die Verführungen im Überangebot der modernen Elektronik für die Musik: „Ich habe das natürlich auch alles angewandt, Live-Elektronik, mit Nachhall und allen möglichen Effekten. Am Anfang versucht man, alle Tasten zu drücken. Dann habe ich aber irgendwann ein bisschen die Lust daran verloren.“ Bei der Arbeit mit Live-Elektronik habe ihm eine „gewisse Körperlichkeit“, so Jesse Broekman, gefehlt: „Der Computer ist wie eine Black Box, bei der niemand weiß, was drinnen passiert. Das finde ich für meine Werke dramaturgisch auf der Bühne nicht aufregend. Ich bin auf der Suche nach etwas anderem, was das Elektronische angeht. Ich probiere eine physische Herangehensweise aus, damit es ein klingendes Objekt auf der Bühne gibt.“
Bei der Arbeit an A Map of Horizons hat der Komponist für die Trompete und Posaune eine indivuelle live-elektronische Bearbeitung entwickelt: Die beiden Instrumente spielen mit präparierten Dämpfern, in die Jesse Broekman kleine Lautsprecher eingebaut hat, die in das Schallrohr gerichtet sind. So klingt gleichzeitig mit dem Instrumentenklang im Instrument als Resonanzkörper das live-elektronische Zuspiel. Dabei ergeben sich beispielsweise überraschende Interferenzen. Außerdem gibt es dadurch für den Musiker das körperliche Erleben dieses Zuspiels. Jesse Broekman erklärt dazu: „Wenn zum Beispiel der Posaunist sein Instrument spielt, spürt er die elektronischen Klänge aus dem Lautsprecher am Dämpfer in seinem Instrument und das ändert auch die Art und Weise, wie gespielt wird. Das heißt, die Interaktion zwischen dem zugespielten Klang und dem Instrumentenklang findet akustisch statt. Auf diese Weise kommen diese großen, strahlenden Klänge der Blechbläser ins Schweben.“
Das, was aus dem Dämpfer im Instrument erklingt, sind Sinustöne, live-elektronisch generiert als Obertöne der live gespielten Bläserklänge. Gleichzeitig erklingen diese Sinustöne über zwei große Lautsprecher auf der Bühne. Mit den übrigen Instrumenten wird ein mikrotonales Feld kreiert, in dem sich die beiden Blechbläser Trompete und Posaune positionieren. Das Saxophon bringt sich vor allem mit Multiphonics ein, mit denen Jesse Broekman überhaupt gerne arbeitet. Auf diese Weise steckt er in seiner Musik ein differenzierts Obertonspektrum ab. Um feine Klangbeziehungen zu flechten, versucht er, Untergruppen im obertonreichen Panorama des Ensembleklangs zu bilden. Neben den beiden Blechbläsern sind dies einerseits Cello, Saxophon und Akkordeon sowie andererseits Schlagzeug und Klavier. Das klangstarke Tastenisntrument wird nicht zuletzt auch im Korpus gespielt. Im tiefen Register sind fünf Saiten mit Nylonfäden präpariert. Daran wird ein Stück Kolophonium gerieben, jenes Bogenharz, das die Rosshaarbespannung des Streicherbogens geschmeidig macht. Auch wenn ganz sporadisch Forte-Stellen vorkommen – eine Konzession Jesse Broekmans an das Ensemble LUX:NM und der Versuch, aus seiner eigenen „Komfortzone hervorzukommen“, so der Komponist – , sind die Klaviereinsätze ebenfalls gedämpft mit subtilen Obertönen im Klang. Dies alles erzeugt jenes gemeinsame Schweben, das sich Jesse Broekman in seiner Klangfantasie für das Ensemble LUX:NM vorstellt.
Eckhard Weber