Das neue Werk von Jannik Giger Qu’est devenu ce bel œil für Sopran, Bassklarinette und »fiktive 4-Kanal Orgel«, wie es in der Besetzungsangabe heißt, hat als Referenzobjekt eine Komposition aus der französischen Spätrenaissance: Ein Chanson gleichen Namens, geschaffen vor über 400 Jahren von Claude Le Jeune, um 1530 in Valenciennes geboren, 1600 als Königlicher Kammerkomponist in Paris gestorben. Claude Le Jeune schrieb neben geistlicher Musik eine Vielzahl weltlicher Madrigale und Chansons. In der dreistimmigen Vokalkomposition Qu’est devenu ce bel œil (»Was wurde aus diesem schönen Auge?«) wird der Verlust eines geliebten Menschen in einem Gestus gemessener, selbstbeherrschter, tendenziell formelhaft erstarrter Trauer zum Ausdruck gebracht. Doch ein klagender Ton scheint subtil durch. Im Interview zu Ultraschall Berlin hat Jannik Giger verraten, weshalb diese Musik sein Interesse geweckt hat, es seien jene »eigenartigen, melancholischen und chromatischen Akkordabfolgen von Claude Le Jeune.« Dieser Klangwelt habe er sich bereits in seiner für das Arditti Quartett geschriebenen Komposition Œil angenähert, so Jannik Giger, deren Uraufführung aufgrund der Pandemie bislang nicht stattfinden konnte. In seinem neuen Werk Qu’est devenu ce bel œil, das für Sarah Maria Sun und Nina Janssen-Deinzer komponiert wurde, habe er dagegen »die hermetische Form des Originalstückes völlig aufgebrochen und musikalische Parameter wie Text, Melodik, Rhythmik und Harmonik in einem sehr prozessoffenen und assoziativen Prozess für mich neu gedeutet.«
Das Ergebnis dieser Gestaltungsweise ist eine dichte, bezwingende Musik, die sich als veritable dramatische Szene erweist. Zur Dramaturgie seines Stücks bemerkt Jannik Giger im Interview: »Es reicht nicht, die Partitur technisch akkurat umzusetzen, das Stück ist sehr manisch strukturiert und beinhaltet rasche Stimmungsschwankungen von Extremzuständen. Es braucht eine große Flexibilität im Ausdruck und viel Antizipation.«
Und was hat es mit der »fiktiven 4-Kanal Orgel« auf sich? Dabei handelt sich um ein Zuspiel, das sich ebenfalls auf die Vorlage von Claude Le Jeune bezieht, zudem den Referenzraum allerdings auf mehrere Jahrhunderte Musikgeschichte ausweitet. Jannik Giger erklärt dazu im Gespräch: »Eine weitere Material-Referenz sind konkrete Orgelklänge. Die auf den Kopf gestellten dreistimmigen Akkorde von Claude Le Jeune habe ich mit dekonstruierten Orgelklängen instrumentiert. Das reicht von Guillaume de Machaut zu Dietrich Buxtehude über Anton Bruckner bis zu Enno Poppe und macht die Zuspielung aufgrund der diversen Spektren, Räumlichkeiten und Temperierungen der verschiedenen Quellen klanglich sehr reich und in der Kombination mit den live agierenden Musikerinnen sehr ambivalent. Die fiktive 4-Kanal Orgel kommt in ihrer komplexen Schichtung schon fast einem unsichtbaren Orchester gleich, welches die beiden Solistinnen aus dem Orchestergraben begleitet und mit viel Patina umhüllt.«
Eckhard Weber