Jacques Wildberger (1922–2006) schrieb als junger Komponist zunächst Agitprop-Kampflieder für politische Kabaretts und Theater seiner Heimatstadt Basel. Er war Mitglied der marxistisch ausgerichteten PdA, bis er 1947 unter dem Eindruck der Stalin-Diktatur austrat. Bald komponierte er Werke in Reihentechnik, die Anfang der 1950er Jahre auch in Darmstadt und Donaueschingen präsentiert wurden. Ein Stipendium des Künstlerprogramms des DAAD führte ihn nach Berlin, wo sein politisches Engagement im Zuge der Studentenbewegung wieder erwachte. »Von da an habe ich eigentlich nur noch Musik gemacht mit einem gesellschaftskritischen Aspekt«, hat Wildberger einmal rückblickend erklärt. Diese konsequente, widerständige politische Haltung führte zu Werken, die literarische und dokumentarische Texte in vielfältiger Form enthalten, aber auch Collagetechniken und Tonbandzuspielungen als Bedeutungsträger, um in der Musik konkrete Inhalte zum Ausdruck zu bringen. Ein erster Versuch auf diesem Weg war 1967 La notte, ein Stück auf Texte von Michelangelo und Hans Magnus Enzensberger, für Mezzosopran, 5 Instrumente und Tonband, dessen Material damals im SFB mit Enzensberger als Sprecher aufgenommen wurde. Exemplarisch für Wildbergers politisch engagierte Musik ist auch seine Komposition Die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme … (1973/74), ein Triptychon für Sopran, Violoncello, Orchester und Tonband mit Texten aus der Bibel, von Samuel Beckett, Albert Camus, Paul Celan, Martin Heidegger und Friedrich Hölderlin.
In den 80er Jahren hat sich Wildberger dann erneut auch der Instrumentalmusik zugewandt, ohne den politischen Anspruch in seiner Kunst aufzugeben, so 1982 in Canto. Der Basler Musikwissenschaftler Michael Kunkel bewertet Wildbergers Canto als »Versuch, bestimmte musikalische Haltungen, die sich im Rahmen der Arbeit mit Texten in den 70er Jahren entwickelt haben, in der Instrumentalmusik zu realisieren.« Der Komponist konnte dabei auf das von ihm entwickelte musikalisch-semantische Vokabular zurückgreifen, das er nun im Orchesterwerk »in einem allgemeingültigeren Sinn«, so Kunkel, zum Ausdruck bringen wollte. Wie sich dies gestalten sollte, hat Wildberger in einem kurzen Werkkommentar zur Uraufführung von Canto erläutert: »Aus geräuschhafter, ›sprachloser‹ Umgebung versucht, zaghaft zuerst, dann immer drängender, ein Gesang sich zu erheben und zu artikulieren. In der Mitte des Stücks scheint ihm die Befreiung zu gelingen: in choralartig-pathetischer Gestalt (Hörner, Trompeten, Posaunen). Ein ›Angsteinbruch‹ (Herztöne im Schlagzeug) zerreißt die Linien und lässt sie wieder ins Vorsprachliche zurücksinken. Am Schluss löst sich der Gesang aus dem Geräusch und schwingt sich ins höchste Register der Solo-Violine. Aber auch im Moment der Hoffnung bleibt die Gefährdung (Reminiszenz der Herztöne).«
Der von Wildberger erwähnte »Angsteinbruch« steht für die Bedrohung, etwa durch Unrecht und Gewalt, die »Herztöne« meinen einen körperlichen Zustand panischer Angst. Der Schlagzeugeinsatz in dieser Passage, orientiert sich in seiner Unerbittlichkeit an der musikalischen Semantik, die Wildberger nicht zuletzt im Vorspiel von Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten finden konnte. Für das Orchesterwerk Canto gilt das, was Wildberger in einem Interview mit Michael Kunkel kurz vor seinem Tod äußerte: »›Dagegen‹ zu komponieren war und ist mein agita movens.«
Eckhard Weber