Es ist hinreichend bekannt, dass die Benediktinerin Hildegard von Bingen zu den gelehrtesten Frauen ihrer Zeit zählte. Ihre Dichtkunst und Ihre Musik waren Teil einer Weltsicht, die durch ihrer von Mystik befeuerten Religiosität geprägt war. Als Symphonia armonie celestium revelationum (»Zusammenklang der Harmonie der göttlichen Offenbarungen«) soll die Ordensfrau ihre Kompositionen, deren Gesangstexte sie selbst dichtete, bezeichnet haben: Ausdruck von Visionen, einem Blick in eine andere Welt. Die moderne Medizin hat versucht, dies mit dem »klinischen Blick«, wie Michel Foucault diese Perspektive nannte, zu erklären: Es soll sich um starke Migräneanfälle bei Hildegard von Bingen gehandelt haben.
Welche auch die Ursache und Wesensart ihrer Visionen gewesen sein mag, sie inspirierten Hildegard von Bingen jedenfalls zu Werken, die in ihrer Individualität und ihrer Gewagtheit aus der Gesamtheit der Musikproduktion, die aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist, herausragt. Ihr Stück O Ecclesia ist ein anschauliches Beispiel dafür. Es ist in zwei verschiedenen Abschriften überliefert: Eine findet sich im Codex Dendermonde, kopiert zwischen 1163 und 1175 im von Hildegard von Bingen gegründeten und geleiteten Kloster Rupertsberg und aufbewahrt in der Bibliothek der Benediktinerinnenabtei St. Peter und Paul im belgischen Dendermonde. Eine weitere steht im sogenannten Riesenkodex, kopiert 1177 bis 1180, aufbewahrt in der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain in Wiesbaden.
Ein Hinweis auf dem ersten Blatt der Abschrift von O ecclesia deutet das behandelte Thema an: »De undecim mil. Viriginibus« (»Von den 11.000 Jungfrauen«). O ecclesia gehört zu insgesamt dreizehn überlieferten Gesängen, die Hildegard von Bingen zu Ehren der Heiligen Ursula komponierte. Keiner weiteren Heiligenfigur hat die Komponistin so viele Musikstücke gewidmet. Die Heilige Ursula soll im 4. Jahrhundert gelebt haben, in der Zeit der späten Kaiserzeit Roms und dem Beginn der sogenannten Völkerwanderungen. Allerdings gibt es keine biografischen Belege dafür, Ursula scheint eine reine Legendenfigur zu sein. Deren Verehrung war zu Lebzeiten Hildegard von Bingens, gerade im Rheingebiet zwischen Köln und Worms – und gerade auch in Benediktinerorden – weit verbreitet. Die Ursula-Legende ist etwa nachzulesen in den Offenbarungen der Heiligen Elisabeth von Schönau (1152) der Benediktinerin Elisabeth von Schönau, mit der Hildegard von Bingen in Korrespondenz stand, und später in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (1263-1267), einer umfangreichen Sammlung der mittelalterlichen Heiligenlegenden.
Die Legende erzählt, dass Ursula, eine christliche Königstochter aus Britannien, aus politischen Gründen einen heidnischen Königssohn heiraten soll. Die junge Frau bittet sich eine dreijährige Frist aus und startet mit sie begleitenden Jungfrauen eine Reise zum europäischen Festland. Der Weg führt über Köln, wo Ursula eine Vision von ihrem Martyrium hat und ihr befohlen wird, nach Rom zu pilgern. Mit dem Schiff geht es von Köln nach Basel und zu Fuß über die Alpen (!) nach Rom. Dort werden die Pilgerinnen vom Papst empfangen. Bei der Rückkehr ist Köln von hunnischen Reitergruppen belagert. Als sich Ursula weigert, die Frau des heidnischen Hunnenfürsten zu werden, wird sie durch einen Pfeil getötet, alle ihre Begleiterinnen sterben ebenfalls als Märtyrerinnen.
Das spektakuläre Anwachsen von vormals 11 auf 11.000 Jungfrauen im Verlauf der Legendenbildung ist bereits in einer Schrift aus dem 10. Jahrhundert überliefert, womöglich aufgrund einer fehlerhaften Lesart des Kürzels XI MV. Dies kann sowohl als »11 martyres virgines« (»11 jungfräuliche Märtyrerinnen«) oder als »11 milia virginum« (»11.000 Jungfrauen«) interpretiert werden. Als Anfang des 12. Jahrhunderts, 1106, also während der Kindheit Hildegard von Bingens, in Köln bei Arbeiten für eine Stadtmauer im nördlichen Bereich der damaligen Stadtgrenze, in der Nachbarschaft der romanischen Basilika St. Ursula ein römisches Gräberfeld mit Tausenden von Gebeinen gefunden wurde, war rasch ein Zusammenhang mit der Legende der 11.000 Jungfrauen konstruiert. Die Funde erklärte man zu Reliquien. In der Folge verbreitete sich der Kult noch stärker überregional, und ein florierender Reliquienhandel entstand.
Hildegard von Bingen betrachtet in ihrem Ursula-Gesang O ecclesia die Heilige als in einer Hochzeit mit Jesus Christus vereint und stellt sie mit dem Bild der Kirche als Braut Christi in Beziehung. Aus diesem Grund beginnt die Ursula-Sequenz mit der Anrufung der Kirche „O ecclesia“. Nachdem zunächst die Kirche metaphernreich mit einem schönen Antlitz verglichen wird, behandeln die weiteren Verse des Gesangs Ursulas Entsagung gegenüber dem Weltlichen und ihr Verlangen nach »himmlischer Vermählung« mit Jesus Christus. Es folgen die Schilderungen der Anfeindungen und des Martyriums. Die Metaphern und Vergleiche in O ecclesia sind bildstark und mit vielen Exklamationen versehen (»Wehe! Das leuchtendrote Blut des Lammes / ist bei seiner Vermählung vergossen worden«).
Die Musik ist zwar keineswegs ausdeutend im Sinne späterer Epochen, verfügt aber über einen durchgehend ausdrucksvollen Gestus. Hildegard von Bingen hat O ecclesia als Sequenz geschrieben, als Gesang, der im katholischen Wortgottesdienst unmittelbar vor der Verlesung des Evangeliumstexts vorgetragen wird. Die Sequenz gehört als Form innerhalb der katholischen Liturgie zum Proprium, zu Formen, die gegenüber dem festgelegten Ordinarium im Jahresverlauf je nach Anlass und Festtag verändert werden können. Es wird allerdings vermutet, das O ecclesia eher im klösterlichen Stundengebet zum Einsatz kam.
Musikalisch entscheidend ist, dass in einer Sequenz als Teil des Propriums mehr künstlerische Freiheiten, eine stärkere individuelle Note, möglich war. Dies kam offenbar dem Gestaltungswillen Hildegard von Bingens entgegen und zeigt sich schon im Tonumfang: In der Gregorianik der Zeit war die Norm ein Ambitus einer Oktave, also acht Töne. O ecclesia weist dagegen einen Umfang von dreizehn Tönen auf. Große Intervalle wie Quint- und Quartsprünge prägen die Melodik. Mit einem Quint-Quart-Aufgang beginnt auch die wiederkehrende Initialformel in O ecclesia, eine, gewissermaßen zum Himmel gerichtete, typische Melodiewendung bei Hildegard von Bingen. Verzierungen in der Melodielinie, im ursprünglichen Vokalstück eine melismatische Anreicherung des syllabischen Gesangs, sorgen für eine Intensivierung des suggestiven Charakters dieses Stücks. Insofern kann O ecclesia als Musik des 12. Jahrhunderts betrachtet werden, die neue Wege des Ausdrucks sucht.