Das kurze Solostück Toccatina von Helmut Lachenmann war ursprünglich als moderne Etüde gedacht. Es entstand für das Lehrwerk Studien zum Spielen Neuer Musik für Violine, das der Geiger Igor Ozim 1986 herausgegeben hat. Im Laufe der Zeit hat sich die Komposition dann ihren Platz im Konzertleben behauptet. Das Fachmagazin The Strad bezeichnete Lachenmanns Toccatina einmal als „Musterbeispiel neuer Streichertechniken“. Tatsächlich führt Lachenmann in diesem Solowerk seine Expeditionen zur Ausweitung des Klangs weiter. Die italienische Herkunft des Titels Toccatina („kleine Toccata“), das Verb toccare, das in einem musikalischen Kontext mit „spielen“ übersetzt werden kann, wird hier im ursprünglichen Wortsinn als „berühren“, „greifen“ oder „anpacken“ aufgefasst und gemäß Helmut Lachenmanns ästhetischem Konzept einer „Musique Concrète Instrumentale“ spieltechnisch umgesetzt.
Der Komponist hat im Laufe seiner Karriere die Instrumente aus der Tradition der europäischen Kunstmusik immer wieder neu erforscht und ungewöhnliche, überraschende Einsichten über ihre Klänge enthüllt. Im Fall der Violine, die neben dem Klavier zum prominenten Virtuoseninstrument der Romantik avancierte, interessieren Lachenmann in seiner Toccatina gerade die Bereiche des Klangspektrums, die jenseits der mitunter zum Klischee erstarrten Qualitäten von Expressivität und Schönklang liegen. Die Toccatina bietet stattdessen Schattenhaftes, Geräuschhaftes, Stimmloses, aber auch Percussives. Die Saiten werden nicht nur gezupft, sondernd teils mit der metallenen Spannschraube des aufgestellten Geigenbogens berührt, was zarte, aber dennoch sehr präsente Klänge hervorbringt. Gestrichen wird auch, allerdings auf den extremen Randlagen, hinter dem Steg und sogar am Abschluss des Geigenhalses auf der Schnecke und auf den Wirbeln. Auch auf diese Weise kann eine Violine „begriffen“ werden.
Eckhard Weber