Der Untertitel von Heinz Holligers Violinkonzert, »Hommage à Louis Soutter«, ist nicht als beiläufige Widmung gemeint, sondern bezieht sich konkret auf das musikalische Geschehen: Als Heinz Holliger den Auftrag erhielt, anlässlich des 75. Geburtstags des in Genf beheimateten Orchestre de la Suisse Romande 1993 ein Werk zu schreiben, fiel ihm bei seinen Recherchen auf, dass der Schweizer Maler Louis Soutter (1871–1942) einst als Geiger in diesem Orchester gespielt hatte. In jungen Jahren hatte er nach Ausflügen in Technik und Architektur bei Eugene Ysaÿe studiert, dem führenden Geiger seiner Zeit, der auch komponierte. Soutter wurde jedoch von Ernest Ansermet, dem berühmten Leiter des Orchestre de la Suisse Romande, bald aus dem Orchester gekündigt. Die Gemälde Soutters werden der Art brut zugerechnet, wobei er jedoch künstlerisch ausgebildet war. Seine in späten Jahren überwiegend mit Fingern gemalten Bilder zeigen vor allem schwarze schattenartige Figuren. Soutter war »ein Ausgestoßener«, so Holliger, ein Aspekt, der den Komponisten schon an Friedrich Hölderlin oder Robert Walser interessierte. »Zudem birgt Soutters Malerei, ohne dass man sie musikalisch illustrieren müsste, unendlich viele Anregungen für einen Komponisten! Seine extrem nervöse Strichart kann man fast eins zu eins in Tonhöhen übersetzen. Auch seine Schattenformen«, hat Holliger in einem differenzierten Werkkommentar erklärt. »Insgesamt habe ich ein Violinkonzert entlang Soutters Leben und Malen komponiert«, so der Komponist. Ohne jedoch – dies ist zu betonen – in irgendeiner Form Programmmusik zu gestalten. Vielmehr geht es um Aspekte des Krisenhaften einer »Beiseit-Existenz«, wie Holliger es nennt, und um allmählichen Sprachverlust – in jeglicher Hinsicht.
Ein weiterer Aspekt des Violinkonzerts bezieht sich auf Eugene Ysaÿe, den übermächtigen Lehrer von Soutter, und dessen den modernen Virtuosenklang prägendes Spiel: wandlungsfähig, agil, direkt, expressiv, schwelgerisch, warm tönend. Holliger hat sich bewusst daran orientiert. Vor allem der kurze erste Satz Deuil (»Trauer«, nach dem gleichnamigen Titel eines frühen impressionistischen Bildes Soutters) von Holligers Violinkonzert ist davon geprägt, wie auch von der Fin-de-siècle-Aura aus Claude Debussys Nocturnes.
Im zweiten, sich bis zum Kollaps nervös steigernden Satz des Violinkonzerts, Obsession, erscheint das »Dies Irae« aus der gregorianischen Totenmesse – eine vielzitierte Chiffre in der Musikgeschichte, nicht zuletzt auch bei Ysaÿe zu finden – in Form von »quasi Choralvariationen«, wie sie Holliger bezeichnet. Im formal ausgreifenden, ungeheure Dramatik entfesselnden dritten Satz Ombres (»Schatten«) setzt sich Holliger nach eigener Aussage mit »musikalischen Schattenwürfen« auseinander: »Man hört darin eine monomanische Geigenlinie, die nie aufhört und weit verzweigte Klang-Schatten wirft. Die Orchestergruppen werden ihrerseits gespiegelt, zurückgeworfen, vergrößert, verkleinert.« Das Orchesterkollektiv wird in diesem Satz in seiner Gesamtheit aufgesplittert. Die Solovioline führe am Ende in »grellste, schattenlose Klanggemische«, so Holliger.
Der umfangreiche Epilog ist »Klang gewordenes völliges Schwarz« laut dem Komponisten, »eine Musik, die alle Brillanz und Virtuosität von vorher verschluckt, sie erstarren, erblinden lässt.« Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch eine geradezu dumpf wirkende Tieferstimmung aller vier Saiten der Solovioline erreicht, wo nichts bleibt, wie es war. Der Titel des Satzes bezieht sich auf das die Katastrophe vorausahnende Gemälde Avant le massacre von Louis Soutter, das dieser bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs malte. Ausgehend davon intendiert Holliger »ein Ritual der Vernichtung«, wie er es beschreibt, das in Agonie führt.
»Meine ganze Beziehung zur Musik ist so, dass ich immer wieder probiere, an die Grenze zu kommen«, hat Heinz Holliger an anderer Stelle einmal geäußert. Für seine Hörer hält er existenzielle Erfahrungen bereit, die zum intensiven Mitverfolgen herausfordern. Unschätzbar wertvoll in unserer Zeit der Oberflächenreize von Streamings, des Twitterns und kurzatmiger Facebook-Meldungen.
Eckhard Weber