Wir haben bei der Planung des Konzerts lange überlegt, ob wir dieses Programm wirklich mit dem Begriff ›Balkanroute‹ verknüpfen sollen. Ziel dieser künstlerischen Unternehmung kann es ja nicht sein, einen klingenden Kommentar zu den politischen Ereignissen der Jahre 2015 bis 2017 abzugeben.
Der Terminus ist natürlich problematisch. Der Balkan war schon immer das Tor zu Europa, aber auch die Durchgangsstrecke, über die Handelswege liefen, wo sich aber auch Grenzen aufgetan haben, Demarkationslinien, lange vor dem 20. Jahrhundert.
Auf dem Balkan verläuft ja auch die alte, jahrhundertelang existierende Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen den mitteleuropäischen Reichen und dem osmanischen Reich.
Und natürlich gibt es auch seit Jahrhunderten schon die Vermengung von islamischer und christlicher Kultur, und zwar über Jahrhunderte in durchaus friedlicher Koexistenz. Die Geschichte des Balkan ist ja nicht nur eine Geschichte von Konflikten und Kriegen, sondern auch eines Nebeneinanders. Diesen historischen Kontext zu negieren und den Balkan auf die gegenwärtigen Fragen von Zuwanderung und Flüchtlingsbewegung zu reduzieren, ist natürlich problematisch. Aber wir verstehen dieses Konzert ja als Aufforderung, sich die Region anders anzuschauen.
Unsere Balkanroute beginnt in der Türkei und endet in Slowenien. Das ist eine in geographischer Hinsicht einigermaßen korrekte Reiseroute. Ist es auch eine musikalische Reiseroute?
Die Komponisten, die wir ausgewählt haben, tragen Geschichten von Exil, Vertreibung, Heimatlosigkeit in ihrer eigenen Biographie. Vinko Globokar etwa, in dessen Musik die Situation, zwischen zwei Welten (eigentlich zwischen vielen Welten) zu leben, immer wieder thematisiert wird. Oder Ivo Malec, der aus Jugoslawien nach Frankreich emigriert ist.
Oder Iannis Xenakis, der heute mindestens so sehr als französischer wie als griechischer Komponist wahrgenommen wird. Auch İlhan Mimaroğlu, ein türkischer Komponist, hat lange Zeit in Amerika gelebt, an der Columbia University studiert und dann in den USA als Produzent gearbeitet, interessanterweise für Atlantic Records, ein Label, das in den 1970er-Jahren zu den führenden Fusion- und Jazzrock-Labels zählte. Er steht also auch für eine ganz andere Musik als die zeitgenössische experimentelle Avantgarde.
Es gibt bei vielen dieser Komponisten Ausreißer in andere Bereiche. Auch bei Globokar, der ja als Jazzmusiker angefangen hat, lange als improvisierender Musiker unterwegs war und eigentlich erst, wie er selbst mal gesagt hat, auf dem zweiten Bildungsweg ein ›anständiger Komponist‹ geworden ist. Ich finde, das ist eine besondere Qualität des Balkans: dass die Grenzen künstlerisch nicht so eindeutig verlaufen. Und das ist ja auch unser Thema: die nicht mehr eindeutigen Grenzen.
Dass die bedeutendsten Komponisten eines Landes nicht mehr in der Heimat leben, sondern im Exil, entweder gezwungenermaßen oder freiwillig, weil ihnen die Heimat zu eng geworden ist – dieses Phänomen findet man in vielen Ländern. Auch im Nahen Osten gibt es viele Komponisten, die eng mit der musikalischen Tradition ihrer Heimatländer verbunden sind, aber anderswo leben, in Paris oder London, in Warschau oder in Amerika. Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass die größte Authentizität in den Regionen selbst und bei den dort Verbliebenen zu finden sei.
Auffällig ist ja, dass zahlreiche Komponisten viel von der Volksmusik ihrer Heimatländer in ihre Kompositionen einfließen lassen. Viel mehr, als das ein deutscher Komponist tun würde, wir haben ja einen bewussten Bruch mit der eigenen Volksmusik vollzogen. Wenn man im Exil leben muss und es keine Chance auf Rückkehr gibt, bekommen solche Traditionen eine größere Relevanz, dann formulieren sie auf andere Weise eine Heimat. Auch bei diesem Konzert fällt auf, wie sich Komponisten in die Folklore begeben und sie zitieren. Es gibt diesen Rückgriff, aber er hat keinen merkwürdigen Beigeschmack.
Er hat nichts ›Volkstümliches‹.
Nein, er wird zu einer Kunstform. Und ist trotzdem authentisch.
Die meisten Komponisten dieses Programms sind in den 1920er Jahren geboren, die Werke selbst stammen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Das ist in selbst für ein Festival wie Ultraschall Berlin, das nicht ausschließlich auf das Neueste fixiert ist, ein recht historisches Programm. Was hat es uns heute noch zu sagen?
Es gibt einen Grund, warum wir nicht Aufträge für neue Werke erteilt haben oder nach Stücken gesucht haben, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Und das hat mit dem Thema zu tun. Wir wollen keinen aktuellen Kommentar aus dem 21. Jahrhundert dazu abgeben, sondern zeigen, welche Geschichte dieser Flüchtlingstreck hat. Wir wollen zeigen, dass die Geschichte von Tod, Vertreibung und Exil schon im 20. Jahrhundert eine große Rolle gespielt hat. Dann muss man aber bei den Komponisten suchen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das historische Geschehen (unter anderem des 2. Weltkriegs) schon mit einem gewissen Abstand thematisiert haben.
Mit Abstand zum historischen Geschehen, aber zugleich auch mit Abstand zu unserer heutigen Gegenwart. Es ergibt sich also ein doppelter Abstand und damit für diese Komponisten so etwas wie eine Mittel-, also auch eine Mittler-Position.
Das Programm hat etwas Janusköpfiges, könnte man sagen.
Das Politische zieht sich durch das ganze Programm, in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten, aus unterschiedlichen Konstellationen heraus und mit unterschiedlichen Zielrichtungen. İlhan Mimaroğlu hat in seiner Tätigkeit als Produzent für Atlantic Records im Jahr 1971 ein legendäres Album mit dem Jazz-Trompeter Freddie Hubbard aufgenommen, das ein dezidiertes Anti-Vietnam-Kriegs-Stück war. Was ist sein Ansatz bei Agony?
Der ist ganz klar durch den Titel benannt, also ein Todeskampf. Auf der Suche nach einem türkischen Komponisten, der nicht zur Gegenwart gehört, sondern zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bin ich zuerst einmal über diesen Titel gestolpert und habe dann lange gesucht, um dieses Stück überhaupt zu finden. Es ist ja nicht ganz einfach, diese Materialien überhaupt aufzutreiben. Der erste Eindruck beim Hören ist, dass das Stück gar nicht anders heißen kann. Das Stück hat eine zerschmetternde, fast postapokalyptische Klangwirkung, eine Zerbrochenheit, eine Zersplittertheit, die mich ungeheuer interessiert hat, um damit den historischen Kontext deutlich zu machen.
Diese Zerbrochenheit prägt auch die anderen elektroakustischen Werke des Konzerts. Ivo Malec hat für sein Werk Triola gefordert, es solle »very very loud« abgespielt werden. Also auch hier eine körperliche Bedrängnis, die sich auf den Hörer übertragen soll.
In seinen Kommentaren zu diesem Stück äußert sich Malec immer wieder zur Position des Zuschauers. Einmal sagt er sogar, dass ein Bluten aus den Ohren nicht zu vermeiden sei. Das wollen wir natürlich nicht, aber es zeigt eine gewisse Direktheit und eine Unbarmherzigkeit, die auch eine Sprache, eine Klangsprache des Balkans ist. Und darin ist Malec dann auch sehr authentisch.
Das Konzert besteht aus zwei Ebenen, die miteinander konfrontiert werden und die sich gegenseitig kommentieren. Es gibt einerseits elektroakustische Werke, andererseits Musik für ein etwas größer besetztes solistisches Vokalensemble. Unter diesen Vokalwerken ist Nuits von Iannis Xenakis sicher das berühmteste – ebenfalls ein explizit politisches Stück, das sich mit Folter und Diktatur auseinandersetzt – , die anderen Werke sind hierzulande weitgehend unbekannt.
Das ist das Schicksal des Repertoires, das wir pflegen. In der speziellen Besetzung für acht bis zwölf solistische Stimmen ist man sehr daran gebunden, ein Ensemble zu haben, das die Werke auch aufführen kann. Da gab es die Groupe vocal de France oder die Schola cantorum, die beide aber leider nicht mehr existieren. Das heißt, dass mit dem Tod eines Ensembles auch dessen Repertoire stirbt. Deshalb sind Dodecamaron von Malec oder Umbrana von Sakač seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeführt worden, weil es die Ensembles nicht mehr gab. Und dann gräbt man diese Stücke aus und stellt fest, dass sie in ihrer Klangsprache unglaublich aktuell sind. Dass das gar nicht so unterschiedlich ist zu heutigen Stücken.
Das ist ja generell das Anliegen von PHØNIX16: der Erbe dieses Repertoires zu sein, das mit dem Verschwinden der entsprechenden Ensembles herrenlos geworden ist. Eines Repertoires, angesiedelt zwischen einerseits der vokalen Kammermusik und andererseits dem Kammerchor. Wie schwer ist eine solche Aufgabe? Zeitgenössische Musik entsteht ja in einer ganz bestimmten Zeit, mit spezifischen technischen Bedingungen oder auch finanziellen Möglichkeiten. Eine Rekonstruktion oder Restitution dreißig Jahre später geschieht ja aus einer ganz anderen Perspektive.
Wir sind bemüht, nicht ›historische Aufführungspraxis‹ zu betreiben. Also nicht, Alte-Musik-Forschung an der Neuen Musik durchzuführen. Sondern die Stücke erst einmal so zu nehmen, wie sie vor uns liegen und nach klanglichen Lösungen zu suchen, die unserem Ensembleklang, unserer Musizierhaltung oder auch einer bestimmten Virtuosität entsprechen. Da passieren manchmal ganz interessante Sachen, wie zum Beispiel bei Vinko Globokar. Wenn wir Werke von ihm nach Jahrzehnten wieder aufführen, ist er oft völlig überrascht und auch angerührt von der Art, wie das musiziert wird. Er hat nach einem solchen Konzert einmal gesagt, er habe dieses Stück als Utopie geschrieben, aber dreißig Jahre später sei die Utopie Realität geworden. Wir merken, dass auch in Werken, die dreißig, vierzig Jahre nicht gespielt wurden, eine Klangvision liegt, die ihrer Zeit voraus war, und dass man mit einem frischen Zugriff diesen Stücken etwas abgewinnen kann und in eine Interpretation bringen kann, die genauso aktuell ist, als wäre das Stück jetzt entstanden. Das ist ein spannender Prozess. Und natürlich ist auch wichtig, dass die Komponisten noch da sind und man die vielleicht letzte Chance hat, mit ihnen die Stücke noch einmal gemeinsam zu erarbeiten.
Und wo bleiben die Jungen?
Wir machen sehr viele Uraufführungen und arbeiten sehr eng mit Komponisten zusammen. Es ist unsere Mission, uns der Musik der Lebenden zu widmen und nicht der Musik der Toten. Natürlich hat man immer wieder die Situation, dass bestimmte Stücke von toten Komponisten in die Programme hineinrutschen. Aber wir versuchen das zu kommentieren. Wir haben eine Konzertreihe, die ›Dead on Arrival‹ heißt und die den Fokus auf tote Komponisten und tote Stücke richtet. Werke, die einmal und nie wieder gespielt wurden, weil sie zu schwer, zu außergewöhnlich besetzt oder nicht gerade sängerfreundlich waren. Dafür findet man in einem Berufschor wenig Begeisterung, aber die Phønixe lieben dieses Repertoire und die Herausforderungen, und sie machen sich gerne auf die Suche nach den Toten. Aber das geht eben nicht unkommentiert. Ich finde, man kann nicht unkommentiert tote Musik spielen.
Die Stimme in ihren ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen, nicht nur als Singstimme, sondern auch gesprochene Stimme, als metaphorische Stimme, die man erheben kann oder auch ›abgibt‹, steht im Zentrum von Ultraschall Berlin. Die Stimme hat in den letzten Jahren in der zeitgenössischen Musik verstärktes Interesse gefunden. Wenn Sie historisches, wenig ›sängerfreundliches‹ Material mit heutigen Kompositionen vergleichen – haben die Komponisten dazugelernt? Oder ist alles nur noch schwieriger geworden?
Wir gewöhnen uns ja auch an Schwierigkeiten. Es gab immer Musik von zeitgenössischen Komponisten, die als wahnsinnig kompliziert angesehen wurde und zwanzig, dreißig Jahre später zu einem Virtuosen-Sport geworden ist. Ich kann nicht sagen, dass es große Unterschiede in der Schwierigkeit zwischen heutigen Werken und denen von vor dreißig Jahren gibt. Es ist damals viel entwickelt worden, was heute noch benutzt wird. Was sich verändert, ist die Identität des Musikers. Des Sängers, der Musik macht. Komponisten wie Globokar oder Malec haben damals versucht, den klassischen Apparat aus den Angeln zu heben. Das braucht man heute nicht mehr unbedingt machen. Das ist schon passiert. Dann aber geht es wieder direkt um die Musik, dann setzt man sich direkt mit der Musik auseinander. Ich glaube, dass Komponisten heute nicht mehr so sehr nach der Auseinandersetzung mit dem klassischen Apparat suchen, sondern nach der Auseinandersetzung mit uns selbst. Mit der Frage: Was ist der Sänger an sich auf der Bühne?