Pierre Boulez sagte einmal über seinen jüngeren britischen Kollegen George Benjamin: »Seine vorherrschende Charaktereigenschaft ist eine gewisse Spontaneität: Man findet bei ihm eine Spontaneität der Gestik, eine Frische des Zugangs, wie man sie sonst allenfalls bei einem Zwanzigjährigen antrifft. (…) Er ist ein Profi, der sich nicht durch übertriebene Gesetze und allzu systematische Überlegungen einengen lässt. Es gibt dieses Überlegen bei ihm, aber gleichzeitig weiß er sich einem strengen System zu entziehen, weil es ihm die Spontaneität nehmen würde.« Dieses Unmittelbare ist auch bei George Benjamins Three Miniatures für Solovioline zu spüren. Der Komponist erklärte dazu: »Drei kurze Stücke, die alle unterschiedliche Facetten der gleichen Kompositionstechnik erkunden, wurden alle für Freunde geschrieben.« Bei dem gemeinsamen Nenner, den Benjamin in seiner Äußerung andeutet, handelt es sich in diesen drei Stücken um eine der zentralen Herausforderungen auf dem Melodieinstrument Geige: eine Melodie mit Begleitung zu gestalten. Dies zeigt Benjamin anhand von drei in Ausdruck und Stimmung höchst unterschiedlichen Beispielen.
Jede dieser drei Miniaturen steht in Bezug zu einer Person, die – jeweils von einer unterschiedlichen Position aus – maßgeblich die zeitgenössische Musik geprägt hat und weiterhin prägt.
Die erste Miniatur, A Lullaby for Lalit, ist ein Wiegenlied für die Tochter des Geigers Jagdish Mistry vom Frankfurter Ensemble Modern und damit gleichzeitig eine Hommage an den Vater der genannten Widmungsträgerin. Mistry hat dieses kurze Stück ohne die übrigen beiden Miniaturen im Januar 2002 in Mumbai zur Uraufführung gebracht. George Benjamin beschreibt die Musik dieser Miniatur als »eine langsame und schlichte Melodie, von den leeren Saiten begleitet, die sich gegen Ende zu Bändern aus Obertönen verwandelt«. Das langsame Strömen in diesem Stück übt in seiner Intensität und in der Entfaltung feinster Klangnuancen eine Sogwirkung aus. Die zweite Miniatur führt nach London, zu Sally Cavender. Als erfahrene und engagierte Verlegerin bei Faber Music ist sie eine langjährige Begleiterin von Benjamin. A Canon for Sally ist »ein sehr energetischer, schneller Satz, dessen Dreiklänge und akzentuierte Rhythmen immer insistierender werden«, so Benjamin. Kurze kanonische Entwicklungen wechseln sich mit expressiver Freiheit ab, die Bogenführung ist resolut und zupackend.
Die dritte Miniatur trägt den Titel Lauer Lied und ist Klaus Lauer gewidmet. Der Hotelier gründete und leitete in seinem Haus die Römerbad-Musiktage und später bis 2017 das Nachfolge-Festival, die Badenweiler Musiktage, beide stets auch Podien für Neue Musik. »Eine gezupfte akkordische Einleitung führt zu einem zärtlichen Lied, arco (›mit dem Bogen‹) gespielt, unterstützt von trällernden pizzicati der linken Hand«, so charakterisiert George Benjamin dieses Lauer Lied. Was sich so simpel und beiläufig in der Beschreibung anhört, ist tatsächlich eine spieltechnische Herausforderung an Koordination, Tongebung und Präzision. Alle Three Miniatures von George Benjamin wurden im März 2002 im Hotel Römerbad in Badenweiler von Irvine Arditti uraufgeführt, einem weiteren Freund von George Benjamin. Der Gründer und Primarius des Arditti Quartetts spielte auch die endgültige Fassung des Werks, die im Jahr darauf beim Aldeburgh Festival präsentiert wurde.
Eckhard Weber