Galina Ustwolskaja, 1919 – also zwei Jahre nach der Oktoberrevolution – im heutigen Sankt Petersburg geboren, hat in ihrer Heimatstadt studiert und war dort als Kompositionsprofessorin tätig. Praktisch ihr ganzes Leben hat sie in der Metropole an der Newa-Mündung verbracht, Reisen waren höchst selten. Die Komponistin, die mit 87 Jahren 2006 gestorben ist, hat die Stalin-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, Perestroika und Glasnost und die Auswüchse des Kapitalismus in ihrer Heimat miterlebt. In ihrem Schaffen hat sich Galina Ustwolskaja, die sich sehr selten zu Interviews hinreißen ließ und ungern Auskunft über ihre Musik gab, eine geradezu eigensinnige künstlerische Unabhängigkeit bewahrt. Während der 1940er Jahre war sie Schülerin von Dimitri Schostakowitsch. Dieser sprach euphorisch von seiner hochtalentierten Schülerin: „Ich bin überzeugt, dass die Musik Ustwolskajas weltweite Anerkennung finden wird bei allen, die der Wahrhaftigkeit in der Musik maßgebliche Bedeutung beimessen.“ Doch das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülerin war nicht ungetrübt. Dabei standen nicht nur unterschiedliche ästhetische Auffassungen zwischen beiden, Galina Ustwolskaja gab einmal folgendes Urteil über Schostakowitsch ab: „Ich habe seine Musik damals wie später entschieden abgelehnt, und leider verstärkte seine Persönlichkeit nur diese belastete, negative Einstellung zu ihm.“
Ihre Karriere als Komponistin wurde gleich zu Beginn in ihrer Kreativität ausgebremst aufgrund der harten Eingriffe des Stalin-Staates in das Kulturschaffen. Künstler, die andere Positionen als den offiziell verordneten konventionell ausgerichteten sozialistischen Realismus vertraten, wurden diffamiert, drangsaliert und waren in den schlimmsten Fällen Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt. Die bekannten biographischen Details bei Komponisten wie Dimitri Schostakowitsch und Sergej Prokofjew, die sich mit den Vorgaben des Staates auseinandersetzen mussten, dokumentieren dies deutlich.
Nicht nur weil sie äußerst skrupulös mit ihrem eigenen Komponieren war, sondern zweifellos aufgrund dieses politischen Klimas in der Diktatur zog sich Galina Ustwolskaja als Komponistin aus der Öffentlichkeit lange Jahre zurück. Die meisten ihrer Werke schrieb sie, unbeachtet vom offiziellen sowjetischen Musikleben, vor allem zunächst für die Schublade – ohne Aussicht auf Aufführungen. Die Komponistin produzierte ihre Werke – soweit man weiß – sporadisch und in großen Abständen. Nach 1990 hat sie überhaupt keine Stücke mehr freigegeben. Dementsprechend schmal ist der Umfang ihres Œuvres. „Meine Arbeitsweise unterschiedet sich in ihrem Ablauf wesentlich von derjenigen anderer Komponisten. Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand gerate. Danach ruht das Werk eine Zeitlang, und wenn seine Zeit gekommen ist, gebe ich es frei“, erklärte sie in einem Brief an ihren deutschen Musikverleger. Im Westen wurde sie weiteren Kreisen von Konzertbesuchern überhaupt erst im Zuge der Auflösung der Sowjetunion bekannt. Porträts im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik 1991 und 1993 leisteten in dieser Hinsicht Pionierarbeit.
Galina Ustwolskajas 1986 komponierte fünfte Klaviersonate gehört mit der sechsten zum Spätwerk. Davor hatte sie rund 30 Jahre keine Klaviersonaten mehr geschrieben. Insofern können ihre insgesamt sechs Stücke der Gattung, die erste entstand 1947, auch letztlich nicht als Konstante in ihrem Schaffen betrachtet werden. In der Fachliteratur tragen Studien über Ustwolskajas Klaviermusik Titel wie „Variationen einer Obsession“, „Musik als magische Kraft“, „Der flammende Flügel“, was bereits entsprechende Assoziationen hervorruft. Die Klaviersonate Nr. 5 beeindruckt tatsächlich schon durch ihre Wucht und Kraft. „Meine Musik ist in keinem Fall Kammermusik, auch dann nicht, wenn es sich um eine Solosonate handelt”, hat die Komponistin einmal gesagt. Bei der Klaviersonate Nr. 5 kann man dies unmittelbar nachvollziehen. Dies liegt weniger daran, dass diese Komposition in gut einer Viertelstunde zehn Sätze hervorbringt, sondern vielmehr an der Klangsprache von Galina Ustwolskaja: Das Werk, das wie die meisten ihrer Stücke ohne Taktstriche auskommt, forscht den Klangkosmos Klavier bis in seine Extreme aus, in Bewegungen, die sich auf den in der Mitte der Tasten liegenden Zentralton des‘ als Gravitationszentrum beziehen. Weite dynamische Gegensätze, scharfe Kontraste in der Artikulation und Klangballungen mit wuchtigen, hämmernden Clustern und insistierende Rhythmen, Aus- und Einbrüche, prägen die Musik. Sie ist hochkonzentriert, kompromisslos, radikal, schonungslos, mitunter wütend oder klagend, roh und nackt in ihrer unbedingten Expressivität. Dynamikanweisungen vom fünffachen Forte bis zum fünffachen Piano bringen es mit sich, dass die Interpretation Pianisten an die Grenzen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten führt, eine enorme Herausforderung, eine Zumutung – eine utopische Vision. Die Spannkraft, die diese Partitur im klanglichen Ergebnis generiert, ist verblüffend.
Über die sechste Sonate, 1988 entstanden und somit eines der letzten Werke, das die Komponistin überhaupt veröffentlicht hat, schrieb der Musikwissenschaftler Stefan Drees in einem Klavierlexikon treffend: “Mit der 6. Sonate (1988) hat Ustwolskaja schließlich ein Werk geschaffen, das – ein einziger brachialer Ausbruch im vier- bis fünffachen Forte – die übrigen Sonaten an Unerbittlichkeit des Ausdrucks weit übertrifft. Einzig in der Klangdichte zeigt sich die Musik variabel, werden doch die Clusterfolgen, die das Grundmaterial bilden, passagenweise zu hart angeschlagenen Einzeltönen ausgedünnt.“ Auf diese Weise experimentiert die Komponistin mit den reichhaltigen und vielfältigen Resonanzen des Klavierklangs. Am Ende lässt sie den Nachhall trutziger Akkordtürme in die resoluten Abwärtsbewegungen der jeweils nachfolgenden Melodielinien dringen. Das Klangresultat dieser Strukturen bringt eine ungeheuer komplexe harmonische Sprache hervor. Diese beiden Klaviersonaten stellten für Galina Ustwolskaja deutlich hörbar etwas Existenzielles dar. Die Komponistin, die Ensemblewerke mit liturgischen Titeln versehen hat, etwa Komposition Nr. 2 Dies Irae für acht Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier, und ihren Symphonien Nr. 2 bis 5 die Zusätze „Wahre, ewige Seligkeit“, „Jesus, Messias, errette uns“ , „Gebet“ und „Amen“ beigab, sagte in den seltenen Äußerungen über ihre Musik einmal: „Meine Werke sind nicht religiös, aber definitiv spirituell, weil ich alles von mir gegeben habe. Meine Seele, mein Herz.“
Eckhard Weber