Ambivalenz wie bei Samir Odeh-Tamimi durchzieht auch Coming together von Frederic Rzewski. Das Werk für Ensemble und einen Sprecher entstand im Herbst 1971. Kurz vorher, im September 1971, hatten die Insassen des Gefängnisses in Attica, gelegen im USBundesstaat New York, gegen die ihrer Ansicht nach unmenschlichen Haftbedingungen revoltiert und einige Wärter als Geiseln genommen. Auf Befehl des Gouverneurs stürmte die Nationalgarde das Gefängnis und machte der Revolte ein Ende, insgesamt 32 Menschen, darunter auch einige der Geiseln, wurden getötet. Einer der Getöteten war der Bombenattentäter Sam Melville, der im Frühjahr 1971 aus dem Gefängnis einen Brief an seinen Bruder geschrieben hatte, in dem er zwar auch die dort herrschenden Zustände beschrieb, vor allem aber über seinen Umgang mit der Situation und vor allem seine Zeit-Erfahrung reflektierte. Wenn man so will: ›… wie die Zeit verging …‹ hinter Gefängnismauern. »I think the combination of age and a greater coming together is responsible for the speed of the passing time. It’s six months now, and I can tell you truthfully few periods in my life have passed so quickly. I am in excellent physical and emotional health. There are doubtless subtle surprises ahead, but I feel secure and ready. As lovers will contrast their emotions in times of crisis, so am I dealing with my environment. In the indifferent brutality, the incessant noise, the experimental chemistry of food, the ravings of lost hysterical men, I can act with clarity and meaning. I am deliberate, sometimes even calculating, seldom employing histrionics except as a test of the reactions of others. I read much, exercise, talk to guards and inmates, feeling for the inevitable direction of my life.« »Beeindruckt sowohl von der literarischen Qualität des Texts wie auch von seiner kryptischen Ironie«, verwendete Rzewski diesen Brief als Text für ein Ensemblewerk, das die von Melville angesprochenen Erfahrungen nicht nur ›thematisierte‹, sondern sie unmittelbar in ästhetische Erfahrung verwandelte. Was Rzewski mit Text und Musik machte, ist alles andere als eine ›Vertonung‹.
Das Stück beginnt stockend, (selbst-)beherrscht, im beinahe neutralen Gestus eines Berichts. Immer wieder werden bestimmte Passagen aus dem Brief wiederholt, die instrumentale Textur wird dichter, langsam steigt der Grad der Erregung, Ensemble wie auch Publikum werden sogartig in das Stück hineingezogen. Anfang der 1970er- Jahre komponierte Rzewski, der in Genre-Fragen immer sehr offen war, vor allem im Stil der Minimal Music. Hier kommen Form und ›Inhalt‹, Kompositionstechnik und Thema eng zusammen. Obwohl der Brief einige Monate vor der Revolte geschrieben wurde, hören wir ihn vor dem Hintergrund dessen, was noch kommen wird. Die Atemlosigkeit der Suada wirkt wie ein Pendant zur Dynamik des Aufstands – ihr Kreisen jedoch auch wie eine Vorhersage des Scheiterns. Andererseits darf man nicht übersehen, dass das musikalische Werk in Distanz zu seinem ›Thema‹ steht und Sam Melvilles Text von seinem Autor wegrückt. Indiz dafür sind Aufführungen mit weiblicher Stimme. Wenn allerdings, wie in einer Aufführung 2016 in San Francisco, Angela Davis, in den 1970er-Jahren die Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, Rezitatorin ist, hebt sie in paradoxaler Umkehr durch ihre historisch aufgeladene Person gerade den politischen Aspekt des Stücks hervor. Heute, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Aufstand in Attica, ist Rzewskis Werk historisch. Und zugleich brennend aktuell. Seine mitreißende Wirkung hat es in radikal veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht verloren. Oder vielleicht wiedergewonnen?
Rainer Pöllmann