Francisco Guerrero: Antar Atman

für Orchester (1980)

Als der Komponist Francisco Guerrero 1997 mit nur 46 Jahren starb, nannte ihn der Nachruf in El País »einen der erfindungsreichsten spanischen Komponisten.« Seit den 1970er Jahren galt er als »größte Hoffnung der spanischen Musik« und als »Xenakis Spaniens«. Seine Werke bestechen durch flexible, extrem differenzierte Klangflächen mit filigranen Binnenstrukturen, die zu verdichteten Energieschüben mit enormer Ausdruckskraft geraten. Guerrero war durch seinen Vater und seinen ersten Kompositionslehrer, Juan Alfonso García, Organist an der Kathedrale von Granada, früh von der Orgelmusik geprägt und hatte gleichzeitig ein großes Interesse an Naturwissenschaften und Mathematik. Aus seinen Einsichten in diesen Disziplinen leitete er Strukturprozesse für sein Komponieren ab. »Wenn du ein Feld siehst, siehst du Musik, beide unterliegen sie denselben Gesetzen«, hat er einmal bemerkt. Formale Prozesse in der Musik versuchte er als organische Entwicklung zu gestalten. »Die Form, auf die ich mich beziehe, begreift das Werk fast als lebendigen Organismus«, fasste er seinen Ansatz zusammen.

Nach Kammerwerken, Vokalmusik, Stücken für Streichorchester, Ensemblestücken und der Beschäftigung mit Elektronik schrieb er mit 29 Jahren sein erstes Werk für großes Orchester, Antar Atman, 1980 im Teatro Real in Madrid mit dem Orquesta Nacional de España unter der Leitung von Luis Izquierdo uraufgeführt. Damals wurde diese Musik relativ kühl vom Publikum aufgenommen. Neu und ungewohnt waren diese Klänge für Madrid wenige Jahre nach dem Ende des Franquismus, die Avantgarde hatte einen schweren Stand.

Antar Atman, der Titel ist dem Sanskrit entlehnt und bedeutet »das innere Selbst«, weist als Orchesterwerk die für Guerrero typische Dichte und Kohärenz in den Strukturen auf. Ähnlich wie sich mit Fraktalen Organisches mathematisch beschreiben lässt, etwa die Strukturen eines Blumenkohls, eines Baums oder eines Farns, wo sich die Makrostruktur in der Mikrostruktur abbildet, beziehen sich die Großform und die Binnenstrukturen der Klangflächen in Antar Atman tendenziell aufeinander. Der großformale Verlauf folgt einer Trichterform: Es gibt eine erste Akkumulierung und Verdichtung, in der Mitte dann eine kurze Ausdünnung, gefolgt von einer zweiten, stärkeren Verdichtung und einer Ballung der Kräfte, einhergehend mit enormer Intensivierung und Prägnanz. Das Vormalige erscheint nach der Rücknahme somit in der zweiten Hälfte gewissermaßen in voller Blüte, in voll ausgebildeten Konturen, mitunter in grellen Farben. Von Anfang an jedoch entfaltet Antar Atman Reibungsenergie und daraus wiederum eine bezwingende Sogwirkung. Einige Jahre nach Antar Atman erarbeitete Francisco Guerrero die auf Fraktalen basierenden Strukturverhältnisse in seinen Partituren mit Hilfe von Computerprogrammen und konnte auf diese Weise die Prozesse noch stärker ausdifferenzieren und verfeinern.

Eckhard Weber