Der Titel ›In margine‹ bezieht sich hauptsächlich auf zwei Dinge: auf die Idee der Präsenz in Abwesenheit und auf die des Restklangs. Die Streichergruppe wird hier wie eine Gesangsgruppe behandelt, wobei der Klang der Streicher einen vokalen Ausdruck bekommt. Der Gebrauch von besonderen Instrumentaltechniken zielt hauptsächlich auf die Fragilität bestimmter Spielarten (wie zum Beispiel des ›legno tratto‹) und auf die Nähe des Bogenhauchs zum Atem.
Marginalien (oder Apostillen) sind Markierungen an den Rändern eines Buches oder Dokuments. Sie können Kritzeleien, Kommentare, Glossen (Anmerkungen), Kritiken, Kritzeleien oder Buchmalereien sein. Sie ergänzen oft den Inhalt des Texts, weil sie auf Dokumente verweisen, die unbekannt oder verloren sind, oder sie liefern Klarstellungen, die aber oft obskur bleiben, weil die Referenz fehlt. Sie sind eine Art Spur, die einem Negativabdruck ähnelt. Wir haben zwar eine Spur, aber wir haben das Ganze verloren. Mit Hilfe dieser Spur schaffen wir eine Perspektive, die bisher nicht vorhanden war.
Ein solcher Negativabdruck ist auch das Charakteristikum des Restklangs, das heißt das, was von einem Klang übrig bleibt, nachdem sein reiner, sinusförmiger Teil extrahiert wurde. Es ist eine Subtraktion, aber auch ein Gewinn, denn es enthüllt sich etwas, das im Klang verborgen und normalerweise ungehört bleibt, weil der sinusförmige Teil im Verständnis eines gegebenen Klangs beherrschend ist.
Dieses Werk hat einen sehr subtilen Bezug zum Licht, das im lliturgischen Text des Requiems ständig erwähnt wird. In der Tat ist es das Licht bzw. die Dunkelheit, die es ermöglicht, einen Klang in seinen geheimnisvollsten Facetten zu sehen oder zu hören. Und ihn sich durch die Bewegung, die den Klang erzeugt, vorzustellen, um ihm so eine präzise Körperlichkeit zu verleihen. In der Dunkelheit muss man sich diese Verbindung vorstellen, weil man sie nicht sieht. Hier werden die Streicher zu Stimmen, ohne jedoch ihre instrumentale Identität aufzugeben. Auch die musikalische Gestaltung verweist in den Beziehungen zwischen den einzelnen Stimmen und ihren harmonischen Beziehungen auf die Vokalmusik.
Das Werk ist auf einer feinen Skordatur aller Streicher aufgebaut, die aus einer bestimmten Anzahl von Teiltönen der Stimmung der Kontrabässe gebildet wird. Alle Instrumente sind in Reiner Stimmung aufeinander bezogen und erkunden feinste mikrotonale Intervalle, die dem temperierten System fremd sind. Auf verschiedenen Ebenen bewegt sich dieses Werk auf der Grenze zwischen Fremdheit und Nähe und befragt unser Hören von Klängen.
Francesca Verunelli