für 3 verstärkte Stimmen und Orchester (2019) UA
Die ersten beiden Sätze von Fabien Lévys Werk De l‘art d’induire en erreur wurden im Mai 2019 von Mitgliedern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart und den Bielefelder Philharmonikern unter der Leitung von Alexander Kalajdzic uraufgeführt. Anlass für die Darbietung war die Auftaktfeier zum 50-jährigen Jubiläum der Universität Bielefeld, die 1969 als Reform-Universität gegründet wurde. Bei Ultraschall Berlin erklingt das revidierte Stück nun mit einem neu komponierten dritten Teil, der den Zeitrahmen der Feierlichkeiten in Bielefeld gesprengt hätte, aber von Anfang an geplant war.
Die in den drei Sätzen vorgetragenen Texte thematisieren auf unterschiedliche Weise Erkenntnisgewinn und Wissensaneignung mit kritischem Geist. Den ersten Satz, Die Kunst der Irreführung, nach dem das gesamte Werk benannt ist, hat Fabien Lévy seinen Kompositionsstudenten gewidmet. Nach Stationen von Paris über Berlin bis New York ist der Komponist seit 2017 Professor an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn-Bartholdy« in Leipzig. Die Vokalpartien beginnen mit Antonin Artauds Brief an die Rektoren der europäischen Universitäten, wo gleich die Ausrichtung des Diskurses auf Temperatur gebracht wird mit der These »in der engen Zisterne, die ihr ›Denken‹ nennt, verfault die geistige Strahlung wie Stroh. Genug der Sprachspiele, des Hokuspokus der Formeln, jetzt gilt es, das große Gesetz des Herzens zu finden, einen Wegweiser für den Geist, der sich in seinem eigenen Labyrinth verirrt hat.« In diesem Satz erscheint auch ein Satz von Rabbi Nahman von Brazlaw, um 1800 als chassidischer Zaddik in der Ukraine lehrte: »Frage nie jemanden nach dem Weg, der ihn kennt. Du könntest Dich nicht verlieren.« Mit dieser Einsicht ist dieser Gelehrte für Fabien Lévy ein früher Vordenker des offenen Prozesses eines modernen Divergent thinking. Diese »Kunst der Irreführung« ist für Fabien Lévy die entscheidende Qualität der Musik – mit all ihren Möglichkeiten, Ambivalenzen und Dialektik zu gestalten. Strategien einer solch produktiven Irreführung, die dem Publikum Überraschungen im kognitiven Erleben beschert, finden sich in den drei Sätzen von De l’art d’induire en erreur zuhauf.
Dies beginnt bereits mit der besonderen räumlichen Anordnung der drei Gesangssolisten und der Orchesterinstrumente: Mezzosopran, Tenor und Bass sind im Orchester verteilt, ihre Partien mit den Orchesterfarben amalgamiert, es gibt insofern oft enge vokal-instrumentale Verbindungen. Holz- und Blechbläser sitzen gemischt. Blockhafte Klänge und einzelne Linien vermeidet Fabien Lévy prinzipiell in seiner Musik. Er behandelt das Orchester als riesiges Instrument, mit dessen vielfältigen Farbwerten er mosaikartige, schillernde, polyperspektivische Klanggebilde erschafft, einen riesigen klingenden Organismus. Hinzu kommt eine Ausdifferenzierung der Tonhöhen: Für De l’art d’induire en erreur ist jedes zweite Instrument aus der Holzbläsergrupp um einen Viertelton tiefer gestimmt. Neun Saiten des Klaviers sind mit Gummidichtungen und Klebegummi präpariert, Streicher und Blechbläser spielen zuweilen mit Dämpfer. Die raffiniert erstellten Mischklänge, die aus dem breiten Spektrum der Teiltöne eines Klangs kombiniert wurden, sind tatsächlich oft nicht mehr einzelnen Instrumenten zuzuordnen. Hinzukommt, dass Fabien Lévy bei seiner Instrumentation sehr räumlich denkt, die einzelnen Gestalten flirren wie Hoqueti durch die Instrumente und Stimmgruppen. Über seinen Hyper-Pointillismus hat Fabien Lévy im Interview für Ultraschall Berlin gesagt: »Ich gestalte bewusst keine Hauptlinie mit Begleitung, es gibt somit keine Hierarchien, alle spielen alles.« Ähnlich komplex aufgefächert sind die Rhythmen, gegen Ende des ersten Satzes treten fragmentierte Rhythmusschichtungen auf, die vom Kecak, einem traditionellen balinesischen Tanzdrama, beeinflusst sind.
Der zweite Satz L’enfance de l’art (»Die Kindheit der Kunst«/»kinderleicht«) behandelt unvoreingenommen und unverstellte Offenheit. Er ist dem Kollegen Ondrej Adamek gewidmet, für Fabien Lévy ein Musterbeispiel dafür. In diesem Satz wird lediglich ein einziges Zitat von Friedrich Nietsche von den Vokalisten verwendet: »Man ist um den Preis Künstler, dass man das, was alle Nichtkünstler ›Form‹ nennen, als Inhalt, als ›die Sache selbst‹ empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt; denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem, – unser Leben eingerechtet.« Dieser Text wird im Verlauf des Stücks zu Klangmaterial atomisiert und neuartig gestaltet, jeweils in enger Verbindung mit den Orchesterinstrumenten, mit denen die Sänger bei ihren Einsätzen jeweils zu einem virtuellen Instrument verschmelzen. Die differenzierten rhythmischen Gestalten, die sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure im Orchester ergeben, sind eine Konsequenz von Fabien Lévys Beschäftigung mit Rhythmen aus der Musik verschiedener Kulturen des afrikanischen Kontinents.
Der Titel des dritten Satzes ו (Souviens-toi de ton future) (»Erinnere Dich an Deine Zukunft«) ist ebenfalls ein Zitat des bereits erwähnten Rabbi Nahman von Brazlav. Es wird von den Vokalisten gegen Ende auf Hebräisch vorgetragen. So unterschiedlich dieser Sinnspruch gedeutet werden kann, von Psychoanalyse bis Mystik, liest ihn Fabien Lévy heute auch in seiner gesellschaftspolitischen Aktualität mit Blick auf die Bedrohungen der Klimakrise. Dieser Schlusssatz des Orchesterwerks ist dem Musikethnologen Simha Arom aus Anlass seines 90. Geburtstags gewidmet, dessen Denken Fabien Lévy entscheidend geprägt hat. Simha Arom erforschte Anfang der 1960er Jahre Musik der Pygmäen in der Zentralafrikanischen Republik. Seine Erkenntnisse über Polymetrie und Polyrhythmik dieser Traditionen haben Komponisten wie Györgi Ligeti tief beeindruckt und nachhaltig beeinflusst. Fabien Lévy zieht im dritten Satz von De l’art d’induire en erreur seinerseits Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen von Simha Arom und gestaltet hier eine eigene Art der Polymetrie. Gleichzeitig verlässt Lévy hier jedoch die eigene künstlerische Komfortzone langjähriger kompositionstechnischer Erfahrung, die Welt der spektralen Klänge, und betritt ein neues Terrain einer individuell ausgestalteten modal geprägten Musik auf der Grundlage spezifischer Skalen. Ganz im Sinne von Guillaume Apollinaires Gedicht Die hübsche Rothaarige, dessen Verse zu Beginn dieses Schlusssatzes intoniert werden. Darin heißt es: »Es gibt da neue Feuer, nie gesehene Farben (…) Mitleid für uns, die wir immer an den Grenzen kämpfen/ des Unbegrenzten und der Zukunft«. Was seinen Ausgangspunkt hatte als Auftragswerk für eine Universität mit einer Reflektion über Erkenntnis und offenes Denken ist Fabien Lévy zu einem autobiografisch geprägten Bekenntniswerk geraten.
Eckhard Weber © 2019