Der US-amerikanische Komponist Evan Johnson, Jahrgang 1980, der mit seiner Familie in Arlington/Massachusetts und Amsterdam lebt, ist ein Meister des Subtilen und der Zurückhaltung:
Auf seiner eigenen Homepage stellt er sich vor als »Komponist, dessen Musik sich auf extreme Grade der Verdichtung und Zurückhaltung, der Komplexität und Kargheit konzentriert und auf Musik, die sich selbst verbirgt.« Die US-Musikzeitschrift Tempo hat geschrieben, Johnsons Musik habe »eine unbeschreibbare Art von Magie, geradezu eine sakrale Anmutung«, der britische Musikkritiker und Autor Paul Griffiths entdeckt in Johnsons Werken »Zartheit, Zerbrechlichkeit, sogar Zärtlichkeit. Aber all dies auf geradezu überirdische Weise. Ergreifend, dennoch ungreifbar«.
Plan and section of the same reservoir, ein Stück für Sopransaxophon, Schlagzeug und Klavier hat Evan Johnson für Trio Accanto geschrieben. Im Februar 2020 hat es das Ensemble in der Philharmonie Luxemburg uraufgeführt. Der Titel Plan and section of the same reservoir könnte vielleicht übersetzt werden mit »Entwurf und Ausschnitt desselben Materialvorrats«, was in seiner Bedeutung indes vage bleibt. Er deutet jedoch zumindest unterschiedliche Perspektiven an. Dies legt auch der kurze Werkkommentar nahe, den der Komponist über Plan and section of the same reservoir verfasst hat. Darin werden einige suggestive Eindrücke und Metaphern vermittelt, die diese Musik beschreiben können: »Mehrere Kanons, wie üblich; mehrere Gewebe, die darüber gelegt werden: einige allgemein gehalten (atmosphärisch, durchgehend), andere mit unterschiedlichen Subjektivitäten, Körperlichkeiten, Arten der Rhetorik: Stottern, Atmen, Schaben, Pfeifen. Entwurf und Ausschnitt: beispielsweise eine fahle, farblose, schwankende, zugestellte Fläche, von oben oder vielleicht von der Seite betrachtet.«
Die ausführlichen Aufführungshinweise, die Evan Johnson seiner Partitur vorangestellt hat, zielen auf ein intimes, zurückgenommenes Geschehen ab: »Der Großteil von Plan and section of the same reservoir, mit gelegentlichen, vereinzelten Ausnahmen, vollzieht sich in einem Bereich extremer Ruhe, extremer Zurückhaltung und extremer Unberedsamkeit, trotz der Details, der ausgearbeiteten Figuren und der Körperlichkeit in den Partien. Ziel ist es, dass diese Ruhe zwischen den Instrumenten in Dynamik und Energie ausbalanciert sein soll. «
Die Interaktion der drei Musiker soll nach dem Konzept von Evan Johnson etwas von einem intimen Ritual haben soll, dem das Publikum von einer Außenperspektive aus beiwohnt. Bewusst soll es keine herkömmliche Konzertdarbietung sein, die sich direkt an das Publikum wendet. Was akustisch zum Publikum gelangt, soll praktisch eine unbeabsichtigte Begleiterscheinung der Interaktionen zwischen den drei Musikern sein. Insofern hat das akustische Ergebnis dieses Werks etwas höchst Indirektes, auch etwas Mystisches. In den Aufführungshinweisen von Evan Johnson heißt es weiter: »Der Klangraum des Werks ist sozusagen die Luft, der Bereich direkt vor den Körpern der Ausführenden, der Raum, der sie umgibt. Es ist nicht der Raum des Publikums. Die Ausführenden sollten vermeiden, ihre Klänge nach Außen zu ›projizieren‹ (sogar, vielleicht vor allem, die gelegentlich lauteren Klangereignisse!); alles sollte wie ein Murmeln wirken, privat, eine Entwicklung und ein Verhandeln einer voll ausgeprägten, privaten Sprache zwischen den Ausführenden statt des Trachtens nach einer klaren Kommunikation nach außen. Alles, was das Publikum erreicht, soll wie zufällig mitgehört wirken.«
Die Percussion setzt in Plan and section of the same reservoir erst ab der zweiten Hälfte des gut viertelstündigen Stücks ein. Aus dem weiten Arsenal der Schlaginstrumente hat sich Evan Johnson auf eine sehr reduzierte Auswahl kleiner Instrumente und Objekte konzentriert, die – so die Anweisung in der Partitur – auf einem Tisch vor dem Schlagzeuger platziert werden sollen: Zwei Blätter Schleifpapier und zwei Schleifschwämme, die als Paar jeweils verschieden rau sein sollen. Mit einer fein gekörnten Oberfläche kann ein relativ hoher Klang erzeugt werden, mit einer grobkörnigen Oberfläche ein relativ tiefer Klang. Mit Schleifschwämmen wird jeweils auf dem Schleifpapier gerieben. Hinzukommen zwei Kieselsteine, die einen relativ hohen Klicklaut erzeugen sollen. Ein Kieselstein soll auf dem Tisch liegen, der andere in der Hand geführt werden. Zwei Crotales, kleine Metallscheiben mit bestimmter Tonhöhe, sind außerdem erforderlich, also praktisch kleine Glöckchen ohne Klöppel, die so auf dem Tisch platziert werden sollen, dass sie beim Anschlagen frei schwingen können. Dazu kommen noch zwei Gewindestangen aus Aluminium, die eine geriffelte Oberfläche haben. Diese Auswahl umfasst ausschließlich Schlaginstrumente, die vorwiegend sehr dezente Klänge erzeugen. Daneben hat der Schlagzeuger leise vokale Äußerungen und Atemgeräusche auszuführen, die bis auf die detaillierte Stellung der Lippen genau in der Partitur notiert sind. Evan Johnson denkt in seinem Konzept sogar an die Möglichkeit, dass gerade der Schlagzeuger mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Allerdings sollten dabei noch seine vokalen Äußerungen im Publikum hörbar sein, so der Komponist: »Der Percussion-Part sollte in besonderer Weise den Charakter eines insensiven privaten Rituals haben, vorwiegend ausgeführt in einem rhetorischen Vakuum, alleine; sein Auftreten zu Beginn des zweiten Teils sollte ein sehr zurückgenommenes, fast unhörbares Ereignis sein, trotz seiner strukturell zentralen Bedeutung.«
Auffällig im Partiturbild: Noten, Ornamente, Artikulationsanweisungen und ganze Klanggesten erscheinen stellenweise in Klammern notiert. Dazu bemerkt der Komponist in den Aufführungsangaben: »Diese sollen mit einem beträchtlichen Ausbleiben von Betonung, Energie und Aufmerksamkeit ausgeführt werden. Vor allem die Verzierungen in Klammern sollten minimal gehalten sein und recht nachlässig ausgeführt werden. Doppelte Klammern – noch mehr in diesem Sinne.«Das bedeutet letztlich: Musizieren mit innerem Dämpfer, wie in Watte verpackt, Klänge wie hinter einer Milchglasscheibe, Agieren mit angezogener Handbremse. Im Klavierpart sind dementsprechend harte Anschläge, wofür das Tasteninstrument prädestiniert ist und was Teil der Erfolgsgeschichte des modernen Klaviers ist, nicht vorgesehen. Es soll in vielen Fällen ein »denaturierter« Klavierklang, so Johnson, erzielt werden, etwa mit dem Einsatz des mittleren Pedals, des Sostenutopedals, und des links davon angebrachten Una-corda-Pedals, das den Ton leiser macht und die Klangfarbe verändert.
Mit dieser Ästhetik der Verweigerung, dieser extremen Gegenposition zum ausgestellten Kunstwerk gelingt Evan Johnson ein Ausforschen intimer musikalischer Interaktion und – mit Blick auf das Publikum – ihrer klanglichen Begleiterscheinungen. Das heißt im konkreten akustischen Ergebnis:
Einzelne dezente Klangereignisse und -gesten der drei Ensembleinstrumente, bei denen spürbar ist, dass es eine enge Kommunikation zwischen den Ausführenden gibt und dass sie tatsächlich aufeinander hören, dringen nach außen zum Publikum. Durch den vom Komponisten konzeptuell festgelegten Filter der Haltung bei der Darbietung, die keine sein will. Pausen sind hier nicht die Abwesenheit von Klang, sondern ein integraler Bestandteil der Energie, die sich in diesem Klangraum ergibt.
Diese Musik lädt das Publikum hin, für etwa eine Viertelstunde die vielfachen grellen, auftrumpfenden Oberflächenreize unserer Zeit hinter sich zu lassen und sich einzulassen auf die leisen Töne, auf das Unaufdringliche, das Dezente, auf das Fragile, auf die leisen Zwischentöne. Eine wunderbare Übung, um die Ohren und den Geist zu öffnen. Insofern ist Plan and section of the same reservoir von Evan Johnson ein sehr wertvolles Angebot angesichts einer oft so lauten, prahlerischen Welt in diesen Tagen.
Eckhard Weber