op. 64 (2011)
Erhard Grosskopf begründete 1978 in West-Berlin die Neue-Musik-Reihe „Insel Musik. Entscheidende Impulse für sein eigenes Schaffen hat der Komponist aus der elektronischen Musik gewonnen. Anfang der 1970er Jahre arbeitete er wiederholt im Studio voor Sonologie der Universität Utrecht. Aus seinen Erfahrungen mit der elektronischen Musik zog er später auch Konsequenzen für seine Instrumentalwerke. Erhard Grosskopfs Kompositionen verlaufen in vielschichtigen Klangprozessen. Er hat dafür den Begriff „Prozessmusik“ geprägt. Deren Ursprünge liegen in elektronischen Verfahren zur Klangerzeugung, wie er 2011 in einem Artikel für die Neue Zeitschrift für Musik dargelegte: „Entwickelte ich Prozessmusik zuerst bei den elektroakustischen Kompositionen im Zusammenhang mit der Spannungssteuerung, die es mir erlaubte, auch lange Teile ohne Tonbandschnitt und Montage zu produzieren, so wurde sie später auch in meiner Instrumentalmusik zum bestimmenden Element.“ Unter Prozessmusik versteht der Komponist, wie er in diesem Aufsatz erklärt, „eine Musik wechselnder Konstellationen, in der im Gegensatz zum traditionellen Akkord- oder Ereignisdenken eine Methode charakteristisch ist, die harmonische Konstellationen in einem vielschichtigen Zeitprozess sich überlagernder Loops entstehen lässt.“ Die einzelnen Loops folgen als unabhängig voneinander laufende, wiederholte Sequenzen den Regeln bestimmter Zahlenproportionen, die ein von Erhard Grosskopf entwickeltes Computerprogramm generiert. Sobald es zu einer Synchronisierung der Prozesse im musikalischen Satz kommt, werden die Proportionen gewechselt, bis der Zufall erneut die Strukturen aufeinander treffen lässt, was dann wiederum zu sich verändernden Verhältnissen führt. Nicht umsonst lautet der Titel des erwähnten Aufsatzes „Kreativität – Zufall – Konstruktion” und bringt damit die zentralen Begriffe von Erhard Grosskopfs Kompositionstechnik auf eine Formel.
2011, als er diese Gedanken publizierte, entstand auch sein Orchesterstück KlangWerk 11. Hier hat er mit Loops aus den Zeitproportionen 3, 5, 9 – 5, 9, 15 – 27, 9, 15 – 3,15, 27 – 3, 27, 5 gearbeitet. Das Ineinandergreifen von akribischer Planung in der Determinierung der Koordinaten und – sobald die Prozesse angelaufen sind – feinstrukturellen Resultaten, die vom Willen des Komponisten losgelöst sind und sich zufällig ergeben, in die er jedoch aufgrund seiner selbst erstellten Vorgaben kreativ eingreifen kann, dies alles macht den Reiz der Musik von Erhard Grosskopf aus.
Als Resultat des Verfahrens entstehen in KlangWerk 11 allmählich sich transformierende Klangfelder, Stimmschichtungen und Kristallisationen und zwischendurch orchestrale Einschläge, die deutliche Spuren hinterlassen. Vor allem die Schlaginstrumente, Harfe und Klavier erweisen sich in KlangWerk 11 innerhalb dieses Prozesses als wichtige Akteure. Eine Kritik sprach nach der Uraufführung 2013 in Frankfurt am Main von „radikaler Entschleunigung“. Er selbst höre seine Musik hingegen „eher als Klangskulptur“, wie Erhard Grosskopf im Interview für Ultraschall Berlin gesagt hat. Schon vor über zwanzig Jahren hat er in einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk auf diesen Zusammenhang zwischen suspendierter Zeit und der Dimension des Raums hingewiesen: „Eine Musik, die im Klang Faszination hervorbringt, hat fast immer eine gewisse Zeitlosigkeit: Ich vergesse diese Sekundenzeit, es ist vielmehr ein räumliches Gefühl (…) Ich glaube, dass Klänge, wenn sie erscheinen, eine eigene Bedeutung bekommen. Sie enthalten eine Art Zeit-Energie, die in Verbindung mit den Klangkonstellationen mehrschichtiger Prozesse die Musikzeit in eine räumliche Dimension überführt.“
Diese Ausweitung im Räumlichen entfaltet beim Hören wiederum einen starken Sog. Wie es genau zu dieser Wirkung kommt, dazu sagt Erhard Grosskopf im Gespräch für Ultraschall Berlin: „Das Gelingen ist auch mir als ,Macher‘ ein Geheimnis – und ohne es gäbe es für mich vielleicht gar kein Bedürfnis, Musik zu schreiben.“
Eckhard Weber